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Die Hexe in deiner Nachbarschaft

■ »Hexen — Wahn — Verfolgung«: Ein Vortrag beim Evangelischen Bildungswerk

Eigentlich sollte Dr. Heidi Staschen am Mittwoch abend im Haus der Kirche einen Vortrag über Erfahrungen aus der Sprechstunde des Hamburger Hexenmuseums halten — ihr war was dazwischen gekommen und deswegen sprang Dr. Uta Ottmüller, Lehrbeauftragte für Politologie und Soziologie an der FU ein. Dr. Ottmüller vervollständigte die Vortragstrilogie aus ihrem im Januar erschienenen Buch Speikinder Gedeihkinder — Körpersprachliche Voraussetzungen der Moderne. Im Zentrum ihrer alltagsgeschichtlichen Untersuchung stehen frühkindliche Ernährungsformen und deren traumatisierende Auswirkungen auf das Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit. Um ihre Thesen zu belegen, verglich die Referentin den stillfreudigen Norden mit der »sexualfeindlichen Einstellung in den süddeutschen Breifütterungsgebieten« des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wo Mutter und Kind sich nie wirklich nahe sein konnten, wo »von Geburt an gewaltsam per Löffel mit Brei gefüttert wurden« — da begünstigte die Fehlernährung die ohnehin sehr hohe Kindersterblichkeit. Nicht selten waren religiöse Irrlehren der eigentliche Grund dafür, daß sich die Bauern sehr weit vom landläufigen Klischee eines naturverbundenen Lebens entfernten. Stillen war nämlich wegen der kontrazeptiven Wirkung verpönt.

Für den häufigen Säuglingstod durch Falschernährung suchten die süddeutschen Dorfbewohner nach übernatürlichen Ursachen. Eine beliebte Möglichkeit war, die (eigene) Schuld am Kindsmord auf böse Nachbarinnen, verarmte oder beneidenswert reiche, zu projizieren. Das waren dann die Hexen, für die man verschiedenste Rituale erfand, sie als solche zu entlarven. Auf diese Aufgaben waren »Entzauberer« spezialisiert, die je nachdem, ob sie in Franken oder Schwaben agierten, z.B. schwarze Hühner kochten, Stecknadeln in Rinderherzen trieben, Urin erhitzten usw.

Der historische Teil des Referats von Dr. Ortmüller bekam, als die Brücke zwischen ihren Thesen zur Auswirkung der bäuerlichen Ernährungsgewohnheit zu unserer körperfeindlichen Zivilisation heute geschlagen wurde, etwas schwer Verständliches, vor allem wegen des von ihr benutzen Vokabulars. Berühmte Namen fielen, die wohl für eine Methodik stehen sollten. Foucault, Bateson, und, häufig zitiert: Jeanne Favret-Saada, eine französische Hexenforscherin. Trotz dieser wissenschaftlichen Autorität im Hintergrund drängten sich viele Fragen auf, etwa ob der Familientherapeut unserer Tage in die Rolle des Entzauberers von damals geschlüpft ist? Und was genau ist heute, im Zeitalter der Stillgruppen, die Ursache dafür, daß das »bio-ökonomische Potential« im Familienverbund aus dem Gleichgewicht gerät? Wer sind die Hexen in unserer Nachbarschaft? Und: wodurch bringen die jungen Mütter heute — da es doch Mutterschaftsurlaub und genug Alete für alle Babies gibt — ihren Säugling in die »traumatisierende Beziehungsfalle« der zu früh vollzogenen Distanz zum Neugeborenen?

Vielleicht lag es am unsicheren Vortragsstil — Frau Dr. Ottmüller las ihren Text Wort für Wort ab —, daß die wissenschaftliche Analogie zum »heute«, die »Vorläufer-Thesen« weitgehend unscharf blieben — der anschließenden Diskussion tat dies jedoch keinen Abbruch. Gemeinsam suchte man nach dem, was man aus den historischen Beispielen lernen könne. Das Böse, die Schuld, dürfe man nie auf andere schieben, sagte eine Zuhörerin. Statt dessen müsse man lernen, das Böse bei sich zu belassen und als Teil des Selbst zu akzeptieren. Daß dies auch für das Verhältnis zum eigenen Körper, zur eigenen Gesundheit gelte, bestätigte Dr. Ottmüller: »Ich will nicht gesund werden auf Kosten anderer«. Der Diskussionsleiter Manfred Richter wies in diesem Zusammenhang auf erfreuliche Fortschritte hin: sogar Volkshochschulen böten heute Kurse an, die auch für die Nichtprivilegierten unserer Gesellschaft Tanzkurse etc. erschwinglich machten — als Hilfestellungen auf dem Weg zu einem besseren Verhältnis zum eigenen Körper.

Das Referat von Frau Dr. Ottmüller fand in der Evangelischen Bildungsakademie statt, in einem Raum, der atmosphärisch wie eine Mischung aus Turnhalle und zeitgenössischem Sektenvortragssaal wirkt. Etwa 20 Hexenexperten und -interessierte, die in reißverschlußreichen Schultertaschen Fachliteratur zum Thema bei sich trugen, folgten den Ausführungen überaus konzentiert. Das große Rätsel des Abends aber blieb Frau Dr. Ottmüllers Pullover: er ward über und über mit galaktischen Strickmustern besät, auf der Brust prunkte ein feuerspeiendes Fabelwesen, halb Drache, halb Tiger, der aussah, als sei er soeben dem Herzen der Referentin entsprungen... Dorothee Wenner

Die Evangelische Akademie setzt das Hexenseminar im Mai fort und bietet verschiedene Veranstaltungen an zum Thema Die Hexe — ein ständiger Anstoß — Fragen an unsere Gegenwart. Nähere Informationen: Evangelisches Bildungswerk Berlin, Goethestraße 27, Berlin 12, 3191-0.

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