: Der „Hinterhof Israels“ hofft auf die Neueinwanderer
Die Ehre, die Negev-Wüste zu entwickeln, wurde in Israel schon in den 50er Jahren den armen Neueinwanderern überlassen/ In den achtziger Jahren verkam der Negev zum „Hinterhof der Nation“/ Mit den sowjetischen Juden kommt jetzt auch neue Hoffnung in die Siedlungsstädte in der Wüste ■ Aus Dimona Hal Wyner
Sowjetische Neueinwanderer in Israel, die nach Dimona ziehen, tun dies meistens nicht, weil sie schon in Leningrad davon geträumt hätten. Viele erfahren von der kleinen Stadt in der Negev-Wüste im Süden Israels überhaupt erst, wenn ein Wohnungsmakler ihnen erklärt, daß dies einer der wenigen Orte im Land ist, wo es noch freie Wohnungen zu erschwinglichen Mietpreisen gibt. Daß dem so ist, steht freilich nur in losem Zusammenhang mit den Siedlungplänen der Regierung für die Neueinwanderer. Der Wohnungsüberschuß in Dimona liegt vielmehr daran, daß alteingesessene Israelis die Stadt schon kennen.
Weltruhm erlangte die Kleinstadt, die sich selbst „die Wüstenblume“ nennt, vor etwa fünf Jahren, als ein junger Techniker namens Mordechai Vanunu der Londoner 'Sunday Times‘ von den Atombomben erzählte, die an seinem ehemaligen Arbeitsplatz, dem israelischen Atomforschungszentrum in Dimona, fabriziert würden. Als Vanunu dann von Mossad-Agenten in Rom geschnappt und kurz danach in Israel wegen seiner Redseligkeit hinter Gitter gebracht wurde, geriet Dimona schnell wieder in Vergessenheit, wo es nach Meinung der meisten Israelis auch hingehört.
Dank Saddam Hussein fand die Wüstenstadt vor kurzem wieder ihren Weg in die Schlagzeilen. Um sich für die Zerstörung seines eigenen Atomreaktors durch israelische Bomben vor zehn Jahren zu revanchieren, schickte der irakische Machthaber Mitte Februar drei Scuds in Richtung Dimona. Abgesehen von dem Schreck, den die Raketen einigen in der Negev-Wüste campierenden Beduinen einjagten, gab es jedoch keinen nennenswerten Schaden. In Jerusalem atmeten Politiker wie Journalisten erleichtert auf: Die Reise nach Dimona war ihnen erspart geblieben.
Dimona ist die schmerzliche Erinnerung an einen gescheiterten zionistischen Traum
Doch der Widerwille, mit dem die meisten Israelis an Dimona denken, hat nicht nur mit den Atombomben zu tun, die dort hergestellt werden — oder, glaubt man den Dementis der israelischen Regierung, vielleicht auch nicht hergestellt werden. Vielmehr gilt die Stadt als schmerzliche Erinnerung an einen zionistischen Traum, der gescheitert ist. In den fünfziger Jahren hatte Israels erster Premierminister David Ben-Gurion „dem Volk und dem Staat Israel“ die Besiedlung des Negevs als anzustrebendes Ziel gesetzt. Um selbst ein Beispiel zu setzen, zog er von Tel Aviv auf einen Kibbuz in der Negev- Wüste mit der Aufforderung an seine Mitbürger, ihm zu folgen. Sie taten es aber nicht.
Fast die einzigen Israelis, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die damals im Süden gegründeten Entwicklungsstädte zogen, waren neueingewanderte orientalische Juden. Oft wurden sie ungefragt direkt vom Flughafen per Bus in die Wüste verfrachtet, wo sie nur Zeltlager erwarteten. Bis heute glauben viele, daß die Orte, an die man sie damals hinbrachte, nicht nach Plan, sondern per Zufall ausgesucht wurden.
Dimona entstand der Legende nach dort, wo Golda Meir und der damalige Entwicklungsminister Dov Josef nach einem Ausflug am Toten Meer auf dem Weg durch den Negev nach Tel Aviv zurück eine Autopanne hatten. Während sie auf Rettung warteten, sollen sich die beiden überlegt haben, daß der Ort, an dem sie steckengeblieben waren, sich für eine Siedlung eignen würde. Bevölkert werden sollte sie von Arbeitern der dreißig Kilometer entfernten Toten-Meer-Werke in Sodom.
So lange die Einwanderungswelle aus den arabischen Ländern anhielt, wuchs — wie in anderen, auf ähnliche Weise gegründeten Städten im Negev — auch die Bevölkerung von Dimona. 1967 hatte die „Wüstenblume“ schon 18.000 Einwohner, 1972 bereits 30.000. Die Mehrzahl von ihnen war aus Marokko eingewandert, aber auch Juden aus Irak, Jemen, Tunesien, Indien, Rumänien und Argentinien wurde die Ehre gegeben, den Negev zu entwickeln. Nur: Die vielen Versprechen der Regierung in Jerusalem, ihnen dabei zu helfen und eine wirtschaftliche Grundlage aufzubauen, gingen nie in Erfüllung. In den sechziger Jahren wurden zwar einige Fabriken gebaut, um die aus dem Toten Meer gewonnenen Minerale zu verarbeiten. Auch eine Textilfabrik entstand, die viele Arbeitsplätze schaffte, aber nicht genug, um die wachsende Bevölkerung zu versorgen.
So begann Mitte der siebziger Jahre der langsame Exodus aus dem Negev in den Norden, vor allem nach Tel Aviv. Alle Anstrengungen der Städtegründer, dies aufzuhalten, nutzten nichts. In den sechziger Jahren hatten sie im Negev ein im ganzen Land beispielhaftes Schulsystem aufgebaut. An den Universitäten von Jerusalem und Tel Aviv hoben sich die Studenten aus Dimona weit vom Durchschnitt ab. Wollten sie aber nach fertigem Studium nach Hause zurück, blieb den Jung-Akademikern nichts anderes übrig, als sich wie ihre Väter mit dem Leben eines Fabrikarbeiters abzufinden — wenn sie überhaupt eine Stelle fanden.
„Ben-Gurion würde sich im Grabe umdrehen“
So wurde der Negev im Laufe der achtziger Jahre immer mehr zum „Hinterhof der Nation“. Während in Tel Aviv und den umliegenden Vororten nach den „Wirtschaftsflüchtlingen“ aus dem Süden bestimmte Viertel „Klein-Dimona“, „Klein- Beersheba“ oder „Klein-Jeroham“ getauft wurden, leerten sich in ihren Heimatstädten ganze Straßenzüge. Die bröckelnden Mauern und zerbrochenen Fenster der verlassenen Häuser verliehen den Städten immer mehr das Aussehen von Slums. Als sich die wirtschafltiche Lage in ganz Israel verschlechterte, wurden immer mehr der ohnehin wenigen Fabriken im Negev geschlossen.
Mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit — vergangenes Jahr erreichte sie in Dimona 12 Prozent — wuchs auch die Kriminalität. In Jerocham, einer Stadt von 14.000 Einwohnern, wurden 1987 mehr als 7.000 Haftbefehle ausgestellt. In der Stadt, die um Golda Meirs Auto gewachsen war, wurden leerstehende Häuser zum Teil zerstört anstatt sie zu renovieren, aus Angst, daß sie sich in Drogenhöhlen verwandeln würden. „Wenn Ben-Gurion das sehen könnte,“ schrieb die Zeitung 'Ma'ariv‘, „würde er sich im Grabe umdrehen“.
„Tel Aviv nach Dimona sind zwei Stunden; zurück vierzig Jahre“
Für den Großteil der Bevölkerung in Israel galten die Siedlungen der Negev immer mehr als Orte, die man möglichst zu meiden hatte. „Von Tel Aviv nach Dimona fährt man zwei Stunden, zurück vierzig Jahre“, hieß es in der Großstadt. Als die größte Tageszeitung im Land 'Jedioth Achronoth‘ letzes Jahr unter dem Titel „Der Süden am Boden“ einen Artikel über die Zustände im Negev veröffentlichte, hielt sie eine Erklärung für notwendig: „Warum das uns interessieren soll? Weil die Lage von Tag zu Tag schlimmer wird, und wenn sie sich nicht bald verbessert, werden die Bewohner des Südens alle nach Tel Aviv fliehen. Und dann wird es uns vielleicht genauso schlecht gehen“. Die Warnung nutzte nichts. Wie zum Hohn erklärte die Armee, daß sie die Soldaten-Uniformen nicht mehr von der Textilfabrik in Dimona — der größte Arbeitgeber der Stadt — bestellen würde, sondern in den USA, weil sie von dort ein billigeres Angebot bekomen hätte.
Inzwischen wurde die Entscheidung zurückgenommen, denn in Dimona ist man auf die Barrikaden gegangen. Ein neuer Bürgermeister, Gabi Lalouche, scheint neues Leben in die Stadt gebracht zu haben. Mit einem Stab von jungen Mitarbeitern, die zwar bei der Angabe von genauen Statistiken leicht zur Übertreibung neigen, dafür aber umso enthusiastischer sind, ist der seit zwei Jahren amtierende Lalouche auf dem besten Weg, „die Wüstenblume“ Dimona, wenn nicht in eine Orchidee, so zumindest in eine Kaktusblüte zu verwandeln. Wer die in Nordisrael zum Klischee geworden Beschreibungen von Dimona als einer deprimierenden Geisterstadt mit einer deprimierten Bevölkerung hört, könnte bei der Einfahrt in Dimona leicht meinen, er hätte die falsche Stadt erwischt.
Während Tel Aviver noch weiterhin behaupten, sie würden „nicht für eine Million Dollar“ nach Dimona ziehen, haben andere, die viel weniger dafür bekommen — für eine dreiköpfige Familie gibt es derzeit etwa 10.000 Dollar Hilfszuwendungen — genau das getan: Juden aus der Sowjetunion. Auch sie würden — wie schon die früheren Einwanderer, die ohne andere Wahl in die Wüste zogen — lieber in Jerusalem, Tel Aviv oder Haifa leben. Nur müßten die Neueinwanderer dort Arbeit als Tellerwäscher und Straßenkehrer annehmen. Und für die Wohnung, die in Tel Aviv 300 Dollar im Monat kostet, zahlt man in Dimona nur 60.
Mit dem Zuzug von rund 1.000 Familien aus Rußland ist die Bevölkerung von Dimona, die auf 25.000 gesunken war, wieder auf über 28.000 gestiegen. Auf einmal ist auch Geld aus verschiedenen Quellen aufgetaucht — zum Teil von der Regierung, zum Teil aus Spenden. (Die jüdische Gemeinde Englands hat Dimona „adoptiert“.) Die Stadtmitte — eine Fußgängerzone etwas kleiner als ein amerikanisches Einkaufszentrum — wird neu gepflastert. Die Holzbänke, auf denen früher die Arbeitslosen der Stadt ihre Tage verbrachten, sind weg. Neue Cafés und Geschäfte machen auf. Auf dem zentralen Platz kreuzen sich die Wege der alten und der neuen Einwanderer: marokkanische Juden in engen Jeans und T-Shirts, indische in Saris, alte rumänische in Pantoffeln und Wollmänteln, russische im C&A-Look. Gelegentlich flitzt auch ein schwarzer Amerikaner auf dem Fahrrad vorbei — Mitglied einer kuriosen Sekte, die sich die „Black Hebrews“ nennt, sich Dimona als Wohnort ausgesucht hat, und zum Leidwesen der Stadtverwaltung eine Wasserrechnung von rund 300.000 Dollar nicht bezahlen kann.
„Hier sind alle Einwanderer“
Bei einer Rundfahrt durch die Straßen von Dimona — die alle irgendwann plötzlich mitten in der gelben, hügligen Wüstenlandschaft aufhören — zeigt der Pressesprecher der Stadt, Mati Hajouin, stolz auf die unzähligen Baustellen. „Holländische Straßen“, „Villen“ und „Cottages“ aller Art sind am Entstehen. Hält die Einwanderungswelle aus der UdSSR an, rechnet er vor, würde sich die Bevölkerung Dimonas in den kommenden Jahren verdoppeln.
„Alles hängt jetzt davon ab, daß wir Arbeitsplätze schaffen“, sagt Hajouin. Der Anfang sei schon gemacht — vergangenes Jahr wurde von englischen Investoren eine Fabrik für elektronische Geräte gebaut; eine zweite, die Injektionsspritzen herstellt und immerhin 50 weitere Arbeitsplätze bietet, wurde ebenfalls vor kurzem eröffnet. Um die russischen Einwanderer, unter denen es viele Ärzte gibt, in Dimona zu halten, soll ein Krankenhaus, dessen Bau vor zwanzig Jahren begonnen wurde, jetzt endlich fertiggestellt werden. Es gibt Pläne, Dimona in ein Touristenzentrum zu verwandeln, Hotels und Museen zu errichten. An Ideen fehlt es nicht. Nur an Geld.
„Sie können sich nicht vorstellen, wie sich die Stadt verwandelt hat“, erzählt Hajouin. „Hier ist es nicht wie in Tel Aviv, wo man auf die Neueinwanderer schimpft und sie ausnützt. Hier sind alle Einwanderer. Wie wissen, wie es ist, wissen, das wir uns gegenseitig helfen müssen. Für Dimona ist das die letzte Chance.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen