: Vereint, verarmt, verarscht!
Zehntausende demonstrierten auf dem Erfurter Domplatz gegen Arbeitslosigkeit in Thüringen ■ Aus Erfurt Henning Pawel
Nicht nur Papier, auch Plätze sind geduldig. Müssen sie auch sein. Der Erfurter Domplatz in all seiner Schönheit ein Paradebeispiel. Die Tritte von Abertausenden, immer anderen zugedacht, treffen zu allererst ihn. Dieser Domplatz, ein kunstvoller Meister des Mittelalters, jetzt Vater gewaltiger thüringer Aufmärsche und Demonstrationen.
Wo ist sie hin, die Stimmung des 89er Herbstes, die heitere, singende, kerzentragende Gelassenheit? Die Hoffnung, daß es bald geschafft ist. Von Hoffnung war auf dem Domplatz keine Spur mehr zu finden. Aber Entschlossenheit, die vollmundigen Versprechungen des Kanzlers aller Deutschen einzufordern.
Just auf diesem Platz vor genau einem Jahr, einem Monat und einem Tag hat er sie abgegeben. „Wir wollen als ein Volk, in einem vereinten Deutschland, gemeinsam die Zukunft gestalten. Und Einheit heißt Freiheit, Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaat, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit.“
„Vereint, verarmt, verarscht“, eine der heute plakatierten Antworten auf des Kanzlers noch berühmteres Credo, daß es niemandem schlechter gehen wird. Viele jener, denen es schon schlechter geht in ganz Thüringen, demonstrierten vorgestern trotz schwerer Regenböen durch das Erfurter Zentrum zu Dom und St. Severin. Von 80.000 Menschen spricht der DGB. Nur 30.000 seien es gewesen, hält die Polizei dagegen.
Aus Suhl die Simson-Werke. Halb Indochina und die Sowjetunion rollt auf ihren Mopeds und Leichtmotorrädern. Nun ist die letzte Fahrt schon in Sicht. Die „treuen Hände“ sind emsig am Werk. Maxhütte Unterwellenborn, einstiges DDR-Renommierobjekt, einstiger thüringer Stahlstandort, die Kumpel verlangen den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze. „Hätt'n mir Eierköpfe nur Oskar gewählt“, sagt vorwurfsvoll ein Stahlwerker und spuckt kräftig auf jenen heiligen Boden, auf dem Bonifazius einst die heidnische Eiche gefällt haben soll. „Oskar hat die Saarstahlkumpels damals auch nicht im Regen stehen lassen.“ „Konnte doch keine Sau wissen, daß die anderen uns so anscheißen“, widerspricht sein Kollege und hebt das Transparent. Das Maß ist voll, Herr Kanzler Kohl.
Sömmerdaer Büromaschinenwerker, die blanke Zukunftsangst. Ihr Werk und erfolgreiche Landwirtschaft dominierten noch vor kurzem die Region. Das Bauernlegen ist im Gange, die Büromaschinen nicht mehr zu verkaufen. Aus allen Branchen sind sie gekommen. Selbst der strömende Regen kann das Feuer des Zorns und der Enttäuschung nicht löschen. „Raus mit den Konkursplanern“, die lauter werdende Forderung. Die Rolle der Treuhand gerät immer mehr ins Zwielicht.
Auch von den Domstufen herab, kräftiger Zunder für die Bundesregierung. Die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sieht die Versager in Bonn, benennnt die entscheidenden Fehler im Einigungsvertrag, verlangt sofortige Infrastrukturprogramme, öffentliche Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, von beruflicher Bildung sowie Struktur und Regionalförderung. Lorenz Schwengler, Vorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) attackiert scharf die unsinnige und unsoziale Kahlschlagpolitik. Die neuen Bundesländer dürfen nicht zu einer Mischung von Golfplatz und Kartoffelacker verkommen.
Immer wieder kräftiger Beifall bei der Ankündigung auf Bonn zu marschieren. Die Wiederaufnahme der friedlichen Erfurter Donnerstagsdemonstrationen, mit denen alles begann, wird ins Auge gefaßt. Der Frieden aber, dem sie sich damals verpflichtet wußten, die Donnerstagdemonstranten, ist dahin. Und es ist zu befürchten, daß er sobald nicht wiederkommen wird.
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