Von der Welt abgeschnitten

Nach den schweren Erdbeben in Nordpakistan warten die Bergbewohner immer noch auf Hilfe/ „Unsere eigene Regierung hat uns vergessen — und der Rest der Welt war mit dem Golfkrieg beschäftigt.“  ■ Von Angela A. Rajai

„Was ist denn schon Krieg gegen ein Erdbeben?“ Seine Frage beantwortet der pakistanischen Dorfschullehrer Muhammed Khan gleich selbst: „Krieg ist dummes Menschenwerk, aber ein Erdbeben bedeutet ein Zeichen Allahs!“ Muhammed Khan stammt aus dem Distrikt Bajawar im bergigen Norden Pakistans, dort, wo Anfang Februar das Zentrum eines Erdbebens der Stärke 6,8 auf der Richterskala war. Stark erschüttert wurden auch die Distrikte Chitral und Malakand sowie die Grenzprovinzen Afghanistans, Indiens und Tadschikistans.

Mindestens 600 Menschen brachte das „Zeichen Allahs“ den sofortigen Tod, sie wurden von den Trümmern ihrer armseligen Hütten erschlagen, vom bröckelnden Felsgestein überrollt, ertranken in den über die Ufer getretenen Gebirgsbächen. Ein Dorf des Distrikts Bajawar wurde völlig zerstört. „Es war ein Nachbardorf in einem Tal, keine 10 Kilometer von hier entfernt,“ berichtet Muhammed Khan, „ein Bergsturz hat Gebäude und Menschen unter Geröll, Eis und Schnee begraben. Bis in diese Höhen sind die Rettungsmannschaften pakistanischer Hilfsorganisationen gar nicht gekommen, aber sie hätten sowieso nichts ausrichten können, denn es gab keinen einzigen Überlebenden.“

Wie durch ein Wunder blieb das Dorf des Lehrers von den Auswirkungen des Bebens weitgehend verschont. Einige Häuser waren zusammengefallen, die Dorfmoschee und die Schule wurden stark beschädigt, es gab Verletzte, aber keine Todesopfer. „Marsha-allah“ sagt Muhammed — Gott ist gnädig! „Dennoch sind wir ratlos, was soll aus uns werden?“, klagt sein Bruder Ali, „unsere Felder sind verwüstet, unsere Obstbäume entwurzelt und die Dämme sind gebrochen. Mit der Schneeschmelze werden die wilden Gebirgsbäche das ganze aufgerissene Land überfluten und unsere Häuser, die nur aus Lehm und Bruchstein gebaut sind, mit sich reißen.“ Und Muhammed ergänzt resigniert: „Auch unsere Straßen sind verschüttet oder zerstört, hier oben sind wir abgeschnitten vom übrigen Pakistan und dem Rest der Welt, aber die Welt kümmert sich doch sowieso nicht um unsere Nöte.“

Selbst zu gewöhnlichen Zeiten bilden die Wintermonate Dezember und Januar eine natürliche Eis- und Schneebarriere für die besiedelten Hochebenen in bis zu 6.000 Metern Höhe. Die Menschen, die dort leben, gehören zum Volksstamm der Pathanen, der im ganzen Hindukuschgebirge, also auch in Afghanistan und Tadschikistan, ansässig ist. Noch vor zwanzig Jahren war Bajawar eines der drei souveränen Fürstentümer, die sich — wie die Provinz Kaschmir — weigerten, an Indien oder Pakistan angeschlossen zu werden. Sie wurden jeweils von einem Wali (Fürst) regiert, der nach mittelalterlichen Methoden seine Staatseinnahmen aus Zöllen, Edelsteinminen und aus dem Pachtzins der Waldgebiete erhielt. Selbständige Bauern gab es zu jener Zeit kaum, sondern nur Pächter, die häufig mehr als die Hälfte ihrer Ernte an die mächtige Fürstenfamilie abzuliefern hatten.

Unter der Militärregierung von Ayub Khan wurden in den sechziger Jahren sämtliche Provinzen und Fürstentümer zur Nord-West-Frontier- Provinz, abgekürzt NWFP, zusammengefaßt und der Verwaltung Pakistans unterstellt. Kein leichtes Unterfangen, waren die Pathanen doch als kriegerischer Volksstamm gefürchtet — selbst den Briten war es zur Kolonialzeit nicht gelungen, sie sich untertan zu machen. Teile der afghanischen Opposition haben die administrative Reorganisation wiederholt zum Anlaß genommen, die Frage eines unabhängigen Pathanistans aufzuwerfen. In diesem Zusammenhang forderten sie auch das Selbstbestimmungsrecht für die in Pakistan und Afghanistan ansässigen Pathanenstämme.

Die Bestrebungen um Eigenständigkeit haben dem stolzen Bergvolk zwar eine eigene Gerichtsbarkeit erhalten, gleichzeitig jedoch haben sie sich damit die Vernachlässigung und Gleichgültigkeit seitens der pakistanischen Regierung eingehandelt. Nur wenige Gebiete sind an das staatliche Stromnetz angeschlossen, Krankenhäuser und Schulen sind rar. In den einzelnen Dörfern herrscht jeweils der Ältestenrat, dem der Dorfmullah vorsitzt. Das dort gültige Gesetzbuch ist der Koran, der Islam nimmt Einfluß auf alle öffentlichen und privaten Belange der Pathanen. Die Menschen leben sehr traditionsgebunden und zurückgezogen.

Nur wenige Orte haben sich dem Fremdenverkehr geöffnet. Im mit mildem Klima gesegneten Swattal suchen reiche Pakistaner im Sommer Erholung von den tropisch-schwülen Städten und Touristen aus allen Ländern besichtigen die Tempel, Ausgrabungen und kulturhistorischen Spuren einer jahrtausendealten Zivilisation.

Abseits der Touristenpfade hat in dieser Gegend die sprichwörtliche pakistanische Gastfreundschaft ihre Grenzen. Die Hütten der Pathanen sind von hohen, mit Schießscharten bewehrten Mauern umgeben, fast jeder Haushalt besitzt eine Kalaschnikow und die Männer verlassen ihre Häuser nie unbewaffnet. Stammesfehden und Blutrache gehören zum pathanischen Alltag. Die Frauen leben unter Purdah, das heißt, sie verlassen so gut wie nie die vier Mauern ihrer Grundstücke. Äußerst selten ist in der Öffentlichkeit ein weibliches Wesen zu sehen, ganz und gar verhüllt in die Burqa (ein faltenreicher, vom Scheitel bis zu den Knöcheln reichender Stoffsack, in den ein gitterähnlicher Sehschlitz in Augenhöhe eingewebt ist).

Die Menschen in den Bergen leben sehr einfach, praktizieren Tauschwirtschaft und ernähren sich von den Produkten ihrer agrarischen Arbeit. Der fruchtbare, von den Gebirgsbächen bewässerte Boden, trägt drei Ernten im Jahr. Angebaut wird Getreide, Obst, Gemüse und Baumwolle. An Vieh werden Ziegen und Hühner gehalten, Wasserbüffel und Maultiere dienen als Arbeitstiere. Die traditionelle Arbeitsteilung in den Großfamilien funktioniert hier immer noch — die Männer bewirtschaften die Felder, die Frauen arbeiten in Haus und Hof. Oft verdingt sich einer der noch unverheirateten Söhne im reichen Saudi Arabien — bis vor kurzem auch in Kuwait — für einige Monate im Jahr als Haushaltshilfe, Gärtner oder Chauffeur. Das Einkommen dient daheim in Pakistan als Notgroschen, vielfach bringt dies das einzige Geld, das einer bis zu zwanzigköpfigen Familie zur Verfügung steht. „Bis vor dem Erdbeben lebten wir ein bescheidenes, aber zufriedenes Leben“, berichtete Muhammed, „nun stehen wir vor dem Nichts. Unsere Vorräte reichen immer nur von einer Ernte zur nächsten und nun ist alles verwüstet, was wir von Generation zu Generation mit unserer Hände Arbeit aufgebaut haben. In anderen Dörfern ist alles noch viel schlimmer. Es sind Menschen erfroren, weil die von den Hilfsmannschaften ausgeteilten Decken und Zelte nicht ausgereicht haben. Wer weiß, wie viele Verletzte sind wohl inzwischen ihren Wunden erlegen, weil keine Medikamente und zu wenig Nahrungsmittel vorhanden sind. Jetzt sind zwei Monate über die Katastrophe vergangen, man hört so gut wie gar nichts mehr von Hilfslieferungen. Unsere eigene Regierung hat uns vergessen — und der Rest der Welt war viel zu sehr mit dem Golfkrieg beschäftigt.“