: Revision des Kemalismus?
■ Mit einer Verfassungsänderung plant Turgut Özal eine Befriedung der Kurden
Revision des Kemalismus? Mit einer Verfassungsänderung plant Turgut Özal eine Befriedung der Kurden
In Europa wird Kemalismus, also die Reform der Türkei 1925, in aller Regel mit der Öffnung des Landes zum Westen gleichgesetzt. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Nach Auflösung des Osmanischen Reiches ging es Kemal Atatürk vor allem darum, aus der ethnisch bunt gemischten Hinterlassenschaft eine türkische Nation zu kreieren, ein Volk, für das als Wahlspruch mit Riesenlettern in die Berge gemeißelt wurde: „Ich bin stolz, Türke zu sein“. Mit dieser Staatsideologie war die Tragödie der in der „neuen Türkei“ lebenden Kurden festgeschrieben. Mehrere große Volksaufstände, in denen die Kurden für Kalifat und ethnische Identität fochten, wurden blutig niedergeschlagen, zuletzt 1936 unter der Führung des Vaters des jetzigen Oppositionsführers Erdal Inönü. Anfang der 70er Jahre war— angespornt vom Freiheitskampf der Kurden im Irak — auch in der Türkei die Friedhofsruhe wieder vorbei, seit 1984 führt die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) einen blutigen Guerillakampf gegen die verschiedenen Özal-Regierungen.
Wird der nun kursierende Entwurf für eine Verfassungsänderung Gesetz, würde das seit knapp 70 Jahren von allen türkischen Regierungen durchgehaltene Dogma der ethnischen Einheit der Nation auf den Müllhaufen der Geschichte wandern. Paradoxerweise wäre diese Zäsur, die einer Revision des Kemalismus gleichkäme, vor allem das Ergebnis von Turgut Özals Willen zur Macht. Die Verfassungsänderung soll aus der Sicht Özals viele Fliegen mit einer Klappe schlagen: die Einführung eines Präsidialsystems nach US-Muster (Präsident Turgut Özal), die Aufhebung der von den Militärs nach dem Putsch 1980 festgeschriebenen demokratischen Einschränkungen wie Meinungsfreiheit und Parteienpluralismus ohne willkürliche Einschränkungen und als Knüller die Anerkennung der Kurden als eigenständige ethnische Gruppe. Özal weiß, daß es ohne eine Lösung der Kurdenfrage, zumal jetzt, wo die Kurden im Irak praktisch zur Anti-Saddam-Allianz gehören, eine Mitgliedschaft in der EG nicht geben wird. Außerdem kann er die Gefahr eines neuerlichen Putsches nur bannen, wenn die türkische Gesellschaft entmilitarisiert wird — also der De-facto-Bürgerkrieg gegen die Kurden im eigenen Land endlich eingestellt wird. Noch ist Skepsis angebracht, noch wird in Kurdistan vom türkischen Militär weiter geschossen, noch gibt es kaum mehr als Absichtserklärungen. Doch was immer von den Motiven Özals zu halten ist: Seit Jahrzehnten gibt es in Kurdistan, im Irak wie in der Türkei, wieder einmal Grund zur Hoffnung. Jürgen Gottschlich
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