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Von der konservativen Lüge zu den linken Luftschlössern

■ Die Option von Gewerkschaft und Opposition, nach der sich mit staatlichen Milliarden die Beschäftigungsverhältnisse der Ex-DDR erreichen ließen, ist reine Fiktion

Entlarvung, das Lieblingsspiel der Linken aller Schattierungen, hat wieder Konjunktur. Ein Blick in den Osten bietet Material zu Hauf, scheint alle Vorhersagen vom wahren Gesicht, von der Fratze des Kapitalismus zu bestätigen. Endlich einmal wieder Recht zu haben, tut gut. Kein linker Gewerkschafter, kein Oppositionspolitiker, der in diesen Tagen nicht die Fehler der Bonner Regierung bemühte und von Kohl verlangte, endlich „Farbe zu bekennen“. Bei Gregor Gysi hört sich das so an: „Kommen Sie nach Ostdeutschland und schauen Sie, was Sie hier angerichtet haben.“ Gewiß, Kohl hat gelogen, und die meisten konservativen und liberalen Politiker leisten im Kohlschen Sinne weiterhin Versprechungen, die niemals zu erfüllen sind. Nur, warum haben ihm die Menschen geglaubt? Die Zwillingsschwester der Lüge heißt Verdrängung. Wer bitte hat nicht gewußt, daß mit Einführung der Westwährung kein Trabi, keine DDR-Kamera und keine DDR-Textilie mehr zu verkaufen sein würde? Im Inland ließ der DM-Besitz den Absatz einbrechen, im Ausland fehlte es den alten Kunden gerade an dem, was für DDR-Produkte jetzt verlangt wurde: harte Devisen. Wer Kohl glaubte, belog sich selbst, wohl wissend, daß die Rechnung, wonach es niemandem schlechter gehen würde als unter der SED-Herrschaft, schlechterdings nicht aufgehen konnte.

Im Moment macht eine neue Lüge Karriere — diesmal eine von links. Suggeriert wird, daß mit Milliarden und Abermilliarden aus der Staatskasse die seligen DDR-Beschäftigungsverhältnisse wieder zurückzuholen seien. Sie sind es nicht, selbst dann nicht, wenn all die Milliardenprogramme optimal griffen. Für mehrere Millionen Menschen, vor allem Frauen, ist der zwangsweise Abschied aus dem Berufsleben endgültig. Wer das verhindern will, muß die Mauer neu erbauen. Jenseits dieser Option geht es beim Streit um politische Alternativen lediglich darum, ob auf dem Gebiet der ehemaligen DDR 30 oder 60 Prozent der ehemals Beschäftigten auf Dauer ohne Job sein werden — eine andere Perspektive läßt der realwirtschaftliche Prozeß nicht zu. Kein moraliner Appell kann daran etwas ändern.

Die Mauer: Schutz gegen Westkonkurrenz

Im September 1989 waren in der DDR 9,5 Millionen Menschen beschäftigt. Das entsprach einer Erwerbsquote von 96 Prozent. Nirgendwo in der kapitalistischen Welt findet sich Vergleichbares. 1989 lag die Quote in den alten Bundesländern gerade mal bei 70 Prozent, nur zwei Prozent höher als 1961. Das technologisch hochentwickelte Produktions- und Dienstleistungspotential in Westdeutschland bietet also nur etwa 70 Prozent der Erwerbspersonen einen Job — und das zu Zeiten der Hochkonjunktur. Wenden wir den Blick nach Osten. Bis zum Fall der Mauer war der Ostmarkt — außer für staatlich kontrollierte Kontingente — für Westwaren vollständig tabu. Für die realsozialistische Wirtschaft besorgte der tödliche Grenzzaun den unabdingbaren Schutz gegen die überlegene Konkurrenz aus dem Westen. Gemeinhin versuchen ökonomisch unterentwickelte Staaten den nicht zu gewinnenden freien Konkurrenzkampf mit hochproduktiven Auslandskonkurrenten durch eine gezielte Schutzzollpolitik zu begegnen — ein sich durch die Jahrhunderte schleppender Kampf.

Zu Anfang des 19. Jahrhunderts ließ die hochentwickelte Manufaktur in England der deutschen industriellen Entwicklung kaum eine Chance. Schon 1838 schrieb der deutsche Nationalökonom Friedrich List den Predigern der freien Konkurrenz dies ins Stammbuch: „Eine freie Konkurrenz zwischen den weitaus vollkommeneren Fabriken Englands und den weniger vollkommenen Fabriken anderer Manufakturmächte, die auf den Märkten dieser Mächte ausgetragen wird, käme schließlich der Vernichtung ihrer Manufakturkraft gleich.“ Ein Satz von geradezu prophetischer Kraft. Maueröffnung und Währungsunion schafften genau diese „Vernichtung“. Nie zuvor in der Geschichte wurde der bei den liberalen Handelstheoretikern und -politikern wenig gelittene Ökonom List so eindrucksvoll bestätigt. Man kann mit der Schaufel in der Hand nicht gegen den Schaufelbagger bestehen. Nicht zuletzt die irrsinnige Produktionstiefe in den 8.000 DDR- Kombinaten sorgte für das Modernitätsgefälle. Zunächst aus der Not heraus geboren, weil Ersatz- und Zulieferteile nur schwer zu bekommen waren, avancierte die „Notlösung“ in den 80er Jahren zur offiziellen DDR-Industriepolitik — mit verhängnisvollen Resultaten: Am Ende der 80er Jahre produzierten zum Beispiel etwa 700 Unternehmen in der DDR parallel Industrieroboter. Die durchschnittliche Produktion lag unter sieben Roboter pro Jahr!

Der Fall der Mauer allein brachte die DDR-Ökonomie schon an den den Rand des Abgrunds. Mit der Währungsunion aber kam der Super- GAU: Was den Ostdeutschen als einziger Wettbewerbsvorteil blieb, war ihr geringer Lohn. Doch der — mehrere Tarifverträge sehen es schon vor — soll spätestens bis 1994 auf Westniveau angehoben werden. Erwirtschaftet werden kann dieser Lohn aber nur, wenn der Produktionsapparat und damit die Produktivität ebenfalls Westniveau erreicht. Gelingt das nicht, bleibt nur die Pleite oder die Dauersubvention. Praktisch läßt sich die Finanzierung über Staatsknete jedoch nicht durchhalten. Wer den Leuten, die jetzt demonstrieren, einredet, mit Subventionen ließe sich der Kahlschlag verhindern, führt die Menschen in die Irre. Die ganze Gesellschaft müßte daran ersticken. Ein Blick in den Westen zeigt, wie kostspielig Dauersubventionen ganzer Branchen kommen. Jedes Jahr erfordert allein der westdeutsche Steinkohlebergbau etwa 10 Milliarden Mark — für nur 150.000 Bergarbeiter.

Fest steht in jedem Fall, da hat Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) Recht, daß man „mit Westlöhnen keine DDR-Erwerbsquote“ erreichen kann. Biedenkopf gehört zu den wenigen Politikern von Rang, der den Menschen in dieser Frage reinen Wein einschenkt. Nimmt man die westdeutsche Quote zur Grundlage — eine absolut optimistische Hypothese, die aller Voraussicht nach in den nächsten zehn Jahren kaum zu realisieren sein wird —, dann können etwa drei Millionen der unter DDR-Verhältnissen beschäftigten 9,5 Millionen Menschen — also etwa 30 Prozent — jede Hoffnung auf einen Job auf ewig begraben.

„Tal der Tränen“ längst nicht durchschritten

Unter der Voraussetzung, daß man die Mauer nicht wieder neu errichten will, kann daran keine Politik, kein Kanzler dieser Welt und auch kein staatliches Milliardenprogramm etwas ändern. Werden Westlöhne gezahlt, ist eine Dauerarbeitslosigkeit von etwa 30 Prozent die günstigste Variante. Daß die Westproduktivität im Osten bis 1994 erreicht werden könnte, ist aber kaum zu erwarten. Im Gegenteil, die Investitionsvorhaben in Ost und West deuten auf ein weiteres Anwachsen des Modernitätsgefälles hin. Wie viele konkurrenzfähige Arbeitsplätze es in der Ex-DDR heute tatsächlich gibt, weiß kein Mensch. Sicher ist nur, daß das vielbemühte „Tal der Tränen“ längst nicht durchschritten ist.

An dieser Perspektive vermögen die staatlichen Milliardenprogramme grundsätzlich nichts zu ändern. Sie sind gleichwohl unverzichtbar, weil ohne sie die Modernisierung des Produktionsapparates noch langsamer vorankäme und auch jenen Betrieben nur die Pleite bliebe, die das Potential haben, den Zustand der Konkurrenzfähigkeit in absehbarer Zeit zu erreichen.

In einer längerfristigen Perspektive bieten sich den Menschen in Ostdeutschland trotz der horrenden Arbeitslosenzahlen gleichwohl Chancen. Ein Blick nach Nordrhein- Westfalen relativiert das aktuelle Horrorszenario. Von den 17,4 Millionen Einwohnern in NRW gehen 5.880.000 Menschen einer bezahlten Beschäftigung nach. Zum Vergleich: Am 30. 6. 1990 lebten auf dem Gebiet der alten DDR 16,25 Millionen Menschen, von denen sich knapp 9,5 Millionen in einem Beschäftigungsverhältnis befanden. Wenn es trotz aller berechtigten Zweifel gelänge, sechs Millionen Menschen statt heute 9,5 Millionen auf Westlohnniveau dauerhaft im Osten zu beschäftigen, ginge es den Ostdeutschen wirtschaftlich wie ihren Nachbarn in NRW — wahrlich kein paradiesischer Zustand, aber vom aktuellen Elend immerhin meilenweit entfernt. Walter Jakobs

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