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Verwurstung einer Avantgarde-Ikone

■ „Galerie der Autoren — Blixa Bargeld im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern“ 10.30 Uhr, N3

Schnell vergeht die Zeit. Anfang der achtziger Jahre hatten die „Einstürzenden Neubauten“ noch den Soundtrack zum militanten Häuserkampf geliefert, inzwischen ist die Industrielärm-Combo bekannt aus Film, Funk, Fernsehen, gern gesehen auch in der einen Kultur. Denn es gibt keinen Untergrund mehr; fröhlich vermischen sich Kressnik, Goetz, „Tote Hosen“ und Ernst Huberty, Peter Zadek, Udo Lindenberg, Blixa Bargeld und seine lärmenden Freunde. Der avancierte Bandname wird gar zum Titelgeber eines heute-journal- Beitrags. Und ohne seine Freunde interpretiert Blixa mittlerweile besinnliches deutsches Liedgut. Demnächst, so erzählt man sich, soll er eine Platte mit den Fischerchören machen. Nick Cave wird sicher auch dabei sein.

Das ist der Lauf der Dinge, und morgen schon sind wir alle tot. Das Schlimmste jedoch, was ehedem aufrührerischen, für ihre Zeit und für ihre Generation extrem wichtigen Künstlern passieren kann, ist die Verwurstung und Disziplinierung ihrer Arbeit im Deutschunterricht fortschrittlicher Pädagogen. („Ficken, bumsen, blasen — was will uns der Dichter damit sagen?“) Läßt sich das steigern? — Sicher. Wenn der Künstler der eigenen Verwurstung freudig zustimmt und sich filmen läßt beim Experiment Deutsch der Paul- Natorp-Oberschule, Berlin Friedenau. Das gibt's dann im vormittäglichen Bildungsprogramm.

In der Galerie der Autoren also sehen wir Blixa Bargeld im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern der Klasse E3. Die SchülerInnen sind zwischen 16 und 17; so alt, wie er damals war, als er — noch ganz bürgerlich Christian Emmerich heißend — von eben dieser Schule geflogen war. Der Direktor hatte das lebenslange Hausverbot aufgehoben, hatte gerufen, und Blixa war als verlorener Sohn gekommen. Aus „Rache“, wie er spitzbübisch grinsend behauptet. Ordentlich haben sie ihn zugeschminkt, damit ja keine Lebensfurche auf dem Gesicht, den Eindruck vermittelt, die Welt bei Nacht könne auch anstrengend gewesen sein. Die adretten SchülerInnen haben die Schminke noch nicht nötig. Ungeschminkt auch ihre Fragen und Vorhaltungen: Abitur sei doch eigentlich ein „schönes Ziel“, und wieso er denn nie ein Musikinstrument gelernt habe. — „Es gibt eben Familien, in denen man ein Musikinstrument lernt.“ Zu solchen Familien gehöre er nicht, erklärte Blixa ganz klassenkämpferisch.

Doch die SchülerInnen fragen den weltweit anerkannten Rockstar, Texter und Kopf der ,Einstürzenden Neubauten‘, nicht nur, sie haben ihm auch etwas mitgebracht. Den Halber Mensch-Text nämlich, haben sie im Werkunterricht unter den Einflüsterungen ihres Deutschlehrers bebildert, gesungen, gesprochen und interpretiert.

Eindrucksvoll dokumentiert das Video die Kulturtodschlag-Taktik sozialdemokratischer Lehrer. In grandioser Peinlichkeit reihen sich schmierig-wehleidig die ausgeleiertsten Metaphern aneinander. Da wird ein halbes barfüßiges Schülermenschlein mit geschlossenen Augen von anderen barfüßigen Schülermenschen im Vertrauensspiel und -kreis hin und hergeworfen, wie die anonyme moderne kalte Technikwelt (Computer usw. gibt's auch) eben einen jeden ihrer warmblütigen Nutznießer hin und herwirft, da gibt es Schüler, die mit Gasmasken gegen den Krieg und Tod demonstrieren (die hat der Lehrer reingetan), und am Ende leuchtet die Abendsonne auf der Stirn einer ernstbedeutungsschwanger blickenden Jungfrau. Schüchtern grübchenwerfend zeigt sich Blixa „ganz gerührt“. Nie habe er geglaubt „daß sich jemand Gedanken macht“ über seine Texte. „Ich bin fast sprachlos“, meinte der Künstler, „der sich immer näher und ernsthafter auf die Jugendlichen einließ“ und sich dabei laut Presseinfo „charmant, witzig, aber auch weich und schüchtern“ präsentierte. Was bei Johnny („Rotten“) Lydon noch zynisches Resümée alter Punkzeiten war, scheint ihm zum Herzensanliegen geworden zu sein: „We only wanted to be loved.“ Detlef Kuhlbrodt

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