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Hollywood im Schnee

■ »Nanook, der Eskimo« — ein ethnographischer Film von Robert Flaherty

Robert Flaherty lernte »Nanook« und seine Familie auf einer Reise in die nordöstliche Hudson Bay kennen. Es war 1920, und schon damals trieben sich in den unwirtlichen Schneeweiten die ersten Ölfirmenvertreter herum. Flaherty wußte das — schließlich leitete er selbst als gelernter Bergbauingenieur mehrere Arktis-Expeditionen im Dienste von Fortschritt und Wissenschaft, bevor er als Hollywood-Regisseur in der Südsee, in England und im ländlichen Amerika Spielfilme drehte.

In Nanook rekonstruiert Flaherty die ursprüngliche Lebensweise der Inuits (Inuits nennen sie, die Eskimos, sich selber, weil »Eskimo« in ihrer Sprache ein Äquivalent zu Nigger ist), so wie es war, bevor die Ausläufer der industriellen Revolution im ewigen Schnee angekommen waren. Von dem Expansionsdrang geschäftstüchtiger Abenteurer ist in seinem Film nichts zu sehen, im Gegenteil.

Nanook, der Eskimo ist ein romantisches Familienporträt, eine Dokumentation über den Alltag des Robbenfischens, Iglubauens und Schlittenfahrens. Flaherty stellt Vater Nanook, seine Frau Nyla und ihr Kind, ein lebendiges kleines Fellpaket auf einem Miniaturschlitten, als überaus freundliche und nette Menschen vor, die wissen, wie man es sich bei Iglu- Innentemperaturen von unter null Grad immer noch gemütlich machen kann. Sie schlafen aneinandergekuschelt auf riesigen Lagern und werden morgens von verschneiten Hundegesichtern begrüßt. Eine harte, aber heile Welt.

Flaherty wurde für diesen Film immer wieder aufs heftigste kritisiert: von den Dokumentaristen, weil er eine Wirklichkeit pseudodokumentarisch abgefilmt hatte, die es schon 1920 nicht mehr gab. Aus politischen Gründen, weil er die Ausbeutung der Eskimos durch Fisch- und Pelzhändler und Techniker der Standard-Oil zugunsten einer Verklärung der Verhältnisse verschwiegen habe — Nanook sei historisch gesehen ein »Kostümfilm«. Diese Einwände mögen berechtigt sein — dennoch hat Flaherty mit Nanook den ersten ethnographischen Film gedreht, der die Menschen, die er zeigte, nicht als wissenschaftliche Objekte vor die Kamera zerrte. Viele Szenen im Film, beispielsweise die Walroßjagd, waren auf Anregung von Nanook gedreht worden. In »Wirklichkeit« war diese Jagdform längst nicht mehr üblich. Zusammen mit den Gefilmten entwickelte Flaherty vor Ort und fast ohne Drehbuch eine Geschichte, die den zwangsläufig fiktiven Charakter des Dokumentarfilms nie zu eliminieren versuchte. Der Filmemacher sah in Nanook eher einen »Schauspieler« in einem nicht im Studio gedrehten Spielfilm denn einen »authentischen Wilden«, wie ihn die Wochenschauen von früher und manche wissenschaftliche Aufklärungsfilme von heute immer noch auf Celluloid zu bannen versuchen. »Daß ich Nanook machen mußte, rührt davon her, was ich für diese Menschen fühlte, von meiner Bewunderung für sie; ich wollte anderen von ihnen erzählen.« (R. Flaherty) Wenn die zweite Fassung von 1921 durch die dramatisierten Sequenzen fast Spielfilmcharakter bekommen hat, ist dies vor allem einer brennenden Zigarette zu verdanken. Sie setzte den Schneideraum in Brand, wo das Material zur erstenNanook-Version von 1916 lagerte. Flaherty selbst fand das alte Material uninteressant und langweilig — es habe nicht einmal »den Faden einer Handlung oder irgendeines Zusammenhangs« gehabt. Das sollte sich in der zweiten Fassung ändern.

Mit Nanook verwirklichte Flaherty eine Dokumentarfilmtheorie, an die Jean Rouch als Avantgardist unter den Ethnofilmern Jahrzehnte später wieder anknüpfte. Rouchs cinéma vérité geht von der Unmöglichkeit aus, den Dokumentarfilm als Medium objektiver Wirklichkeitsabbildung zu benutzen. Statt die Anwesenheit der Kamera im zu filmenden Ambiente so gut es geht zu kaschieren, nutzt sie das cinéma vérité, Szenen zu stimulieren, die sonst nicht oder anders ausgesehen hätten. Genauso arbeitete Flaherty: »Die Kamera dient der Entdeckung. Ein Filmschöpfer benutzt seine Kamera so wie der Maler seinen Pinsel, er schafft damit. Das Objektiv der Kamera kann mehr sehen als das menschliche Auge und die Wirklichkeit besser analysieren.« (R. Flaherty) Mit Nanook gelang ihm ein Film, in dem jedes Bild von der seltsam-schönen Freundschaft zwischen einem Hollywood-Regisseur und einer Inuit-Familie erzählt. Dorothee Wenner

Nanook, der Eskimo (USA 1921), stumm mit englischen Zwischentiteln, Fr. 5.4. bis So. 7.4., jeweils 18 Uhr im Arsenal.

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