: „Akrobaten, Gleichschritt marsch!“ Nur Brosamen für begnadete Körper
■ Die 1. Berliner Meisterschaft in der Sportakrobatik ist exklusiv weiblich
Prenzlauer Berg. Der deutsche Wald, hat unser Bundeskanzler glasklar erkannt, ist mehr als nur die Addition von Bäumen. Aus welchen Faktoren sich jedoch die Sportakrobatik zusammensetzt — dieser analytische Ansatz würde jedem Pfälzer Kleinhirn auf den Saumagen schlagen.
Nach den Regeln der Kunst gehören Sport und Akrobatik nicht unbedingt zusammen. Der Sport riecht zu sehr nach den würzigen Zutaten Blut, Schweiß und Tränen. Mit Akrobatik hingegen verbindet man gewöhnlich die unerhörte Leichtigkeit des Seins unter Zirkuskuppeln oder auf Varietébühnen. Journalistische Grenzgänger, die etwa einen Fußballer einen „artistischen“ Fallrückzieher andichten wollen, fallen deshalb gehörig auf die Nase. „Die Sportakrobatik liefert sicherlich angehenden Artisten ein hervorragendes Handwerkszeug“, berichtet Werner Hassepaß vom Berliner Turnerbund am Rande der 1. Berliner Meisterschaften in dieser Disziplin. Ansonsten, so der Mann, der diesen Sport über zehn Jahre durch die rigide Förderpolitik der DDR manövrierte, „unterliegen die Sportartisten eben nicht der künstlerischen Bühnenfreiheit, sondern exakten Wettkampfregeln“.
Daß aber auch hier genügend Spielraum bestehen dürfte, zeigt bereits die Entstehungsgeschichte der sportlichen Akrobatik: Nach 1945 wurde sie der Schwerathletik zugeordnet, wenig später traten ihre Protagonisten als „Kunstkraftsportler“ auf; in der DDR wiederum bot ihnen der Turnerbund ein Zuhause, während in der BRD eigens ein Deutscher Sportakrobatik- Bund existiert, dem die Vertreter der O-Länder demnächst beiträten möchten.
„Akrobaten, zum Einmarsch im Gleichschritt, marsch!“ dröhnte Herrn Hassepaß' Stimme am frühen Samstag durch das TSC-Objekt am Prenzlauer Berg. Als er der angetretenen Leistungsklasse Gesamt-Berlins auch noch „Augen rechts!“ befahl, hatte er notgedrungen Blickkontakt mit den Meisterakrobaten und mußte seinen Irrtum einsehen: Angetreten zum zirzensischen Sportvergnügen waren rund ein Dutzend Mädchen in der Wachstumsphase, Schüler- und Jugendklasse, wie es im Fachjargon heißt. Sie präsentieren in der Folge ein durchaus sehenswertes Potpourri aus turnerischen Elementen, rhythmischer Gymnastik, kräftezehrenden Hebefiguren á la Eiskunstlaufen und tänzerisch-anmutigen Passagen. Akrobatische Sprungreihen lösten sich mit geschickten Balanceküren ab, daß man staunen mußte, wie die Aktivinnen dabei noch ein Jury- betörendes Lächeln auf die angestrengten Lippen zaubern konnten. Zum Glück für die wenigen Besucher vergriffen sich die Sportartistinnen nicht wie ihr Dachverband in der Mottenkiste der Musikgeschichte. Während sie der Turnerbund Deutschlands noch immer im Marschrhythmus durch die Historie quält, wählten die jungen Damen für ihre Vorträge progressive Klänge — von Ritchie Claydermann (na ja) über Jethrow Tull bis hin zu Edvard Grieg.
Eine einträgliche Zukunft hingegen sehen die begnadeten Körper nicht in ihrem Tun. Ob sie nun aus dem Ostteil der Stadt stammen, etwa vom Branchenführer SV Lichtenberg47 oder von der Kreuzberger Turnerschaft in Berlin (TiB) — mit Artistik läßt sich kaum mehr als Brosamen verdienen. Früher, als es noch einen VEB Staatszirkus in Berlin gab, rekrutierten Nachwuchsscouts besonders biegsame Menschen aus solchen Veranstaltungen, indem sie sie an die — gleichfalls staatseigene Schule für Artistik in der Friedrichstraße empfahlen. Heute stemmen, balancieren oder überschlagen sich Berlins beste Sportakrobatinnen just for fun.
Auch wenn Werner Hassepaß dies am Ende der Titelkämpfe nicht richtig rüberbringen konnte: „Akrobaten, im Gleichschritt...!“ kommandierte er. Die Teilnehmerinnen gehorchten, doch ihre Gesichter verbogen sich zu einem breiten Grinsen. Wie man in den deutschen Wald hineinruft, so hallt es zurück. Jürgen Schulz
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