Heidegger, Gagarin und wir

■ Vor 30 Jahren umkreiste Juri Gagarin als erster Mensch die Erde

Es wäre dringend nötig, so sagt man, den Menschen gegen die Technologie unseres Jahrhunderts zu verteidigen. Der Mensch hätte in ihm seine Identität verloren, um wie ein Rädchen in eine ungeheure Maschinerie zu geraten, in der sich Dinge und Lebewesen drehen. Von nun an würde existieren gleichbedeutend damit sein, die Natur auszubeuten; aber im Wirbel dieses Unternehmens, das sich selbst verschlingt, würde kein Fixpunkt fortbestehen. Der einsame Spaziergänger, der in der Gewißheit, sich selbst zu gehören, auf dem Land umherschlendert, wäre in Wirklichkeit und ohne sein Wissen nur der den Kalkulationen, Statistiken und Planungen ausgelieferte Kunde einer Hotel- und Touristikindustrie. Niemand würde mehr für sich existieren.

Es ist etwas Wahres an dieser Deklamation. Die Technik ist gefährlich. Sie bedroht nicht nur die Identität der Personen. Sie läuft Gefahr, den Planeten in die Luft zu jagen. Jedoch die Feinde der industriellen Gesellschaft sind fast immer Reaktionäre. Sie vergessen oder verabscheuen die großen Hoffnungen unserer Zeit. Denn niemals lag das Vertrauen in die Befreiung des Menschen stärker in den Seelen. Es hängt sich nicht an die Erleichterungen, die die Maschinen und neuen Energiequellen dem kindlichen Instinkt der Geschwindigkeit bieten; es hängt sich nicht an die schönen mechanischen Spielzeuge, die das ewige Kindischsein der Erwachsenen in Versuchung führen. Es ist nur solidarisch mit der Erschütterung der seßhaften Kulturen, mit der Auflösung der lastenden Schwere der Vergangenheit, mit dem Verblassen der lokalen Farben, mit den Rissen, die all jene sperrigen und schwer beweglichen Dinge bekommen, an die sich die menschlichen Partikularismen anlehnen. Man muß unterentwickelt sein, um diese Dinge als Daseinsgründe in Anspruch zu nehmen und in ihrem Namen um einen Platz in der modernen Welt zu kämpfen. Die Entwicklung der Technik ist nicht die Ursache — sie ist bereits die Wirkung dieses Leichterwerdens der menschlichen Substanz, die sich ihrer nächtlichen Schwergewichte entledigt.

Ich denke an eine bestechende Strömung des modernen Denkens, die in Deutschland entstand, und die die heidnischen Schlupfwinkel unserer westlichen Seele überschwemmt. Ich denke an Heidegger und die Heideggerianer. Man möchte, daß der Mensch die Welt wiederfindet. Die Menschen hätten die Welt verloren. Sie würden nur mehr die vor sie gestellte, auf sie zugestellte und in gewisser Weise ihrer Freiheit entgegengestellte Materie kennen, sie würden nur noch Objekte kennen.

Die Welt wiederzufinden heißt dann, eine auf geheimnisvolle Weise in den Ort eingelassene Kindheit wiederzufinden, sich dem Licht der großen Landschaften zu öffnen, der Anziehungskraft der Natur, dem majestätischen Hingelagertsein der Gebirge; es heißt, häufig einen Fußweg zu besuchen, der sich durch die Felder schlängelt; es heißt, die Einheit zu spüren, die die Brücke stiftet, indem sie die Ufer des Stromes und die Architektur der Brückenpfeiler in wechselseitige Nachbarschaft bringt; es heißt, die Anwesenheit des Baumes zu spüren, das Halbdunkel der Wälder, das Geheimnis der Dinge, eines Kruges, der abgetretenen Schuhe einer Bäuerin, das Funkeln einer auf ein weißes Tischtuch gestellten Karaffe Wein. Das Sein selbst würde sich hinter diesen ausgezeichneten Erfahrungen zeigen, sich in die Hut des Menschen geben und sich ihr überantworten. Und der Mensch, als Hirte des Seins, zöge aus dieser Gnade seine Existenz und seine Wahrheit.

Die Lehre ist subtil und neuartig. Alles, was uns seit Jahrhunderten als etwas erschien, das der Natur durch den Menschen hinzugefügt wurde, würde bereits in der Lichtung der Welt leuchten. Das Kunstwerk — ein Aufblitzen des Seins und keine menschliche Erfindung — läßt diese vormenschliche Lichtung erglänzen. Der Mythos spricht sich in der Natur selbst aus. Die Natur ist in diese anfängliche Sprache eingepflanzt, die allein dadurch, daß sie uns anspricht, die menschliche Sprache begründet. Der Mensch muß fähig sein, zu horchen und zu hören und zu antworten. Aber diese Sprache zu vernehmen und ihr zu antworten, besteht nicht darin, sich logischen, als ein System von Erkenntnissen errichteten Gedanken zu widmen, sondern darin, den Ort zu hüten, da zu sein. Verwurzelung. Man ist versucht, dieses Wort wieder aufzugreifen; aber die Pflanze ist nicht Pflanze genug, um die Vertrautheit mit der Welt zu bestimmen. Ein wenig Menschlichkeit, so heißt es, würde von der Natur entfernen, viel Menschlichkeit uns zu ihr zurückführen. Der Mensch würde die Erde in radikalerer, verwurzelterer Weise bewohnen als die Pflanze, die aus ihr nur die Nährsäfte zieht. Die Fabel, welche die anfängliche Sprache der Welt erzählt, setzt feinere, zahlreichere und tiefer hinabreichende Bindungen voraus.

Da haben wir also wieder die ewige Verführung des Heldentums, diesmal jenseits der Infantilität des seit langem überwundenen Götzendienstes. Das durch die Welt hindurchscheinende Heilige — das Judentum ist vielleicht nur die Negation von alledem. Die heiligen Haine zerstören — wir verstehen jetzt die Reinheit dieses sogenannten Vandalismus. Das Geheimnis der Dinge ist die Quelle jedweder den Menschen angetanen Grausamkeit.

Die Eingebundenheit in eine Landschaft, die Anhänglichkeit an den Ort, ohne die das Universum bedeutungslos werden und kaum existieren würde — das ist die Spaltung selbst der Menschheit in Einheimische und Fremde. Und unter diesem Blickwinkel ist die Technik weniger gefährlich als die Schutzgeister des Ortes.

Die Technik beseitigt das Privileg dieser Verwurzelung und des Exils, das sich darauf beruft. Sie macht frei von dieser Alternative. Es handelt sich nicht darum, zum Nomadentum zurückzukehren, das ebenso unfähig wie die seßhafte Existenz ist, einer Landschaft und einem Klima zu entkommen. Die Technik entreißt uns der Heideggerschen Welt und dem Aberglauben des Ortes. Infolgedessen erscheint eine Chance: die Menschen außerhalb der Situation wahrzunehmen, in der sie vorübergehend eingerichtet sind, das menschliche Gesicht in seiner Nacktheit aufleuchten zu lassen. Sokrates zog der Landschaft und den Bäumen die Stadt vor, wo man den Menschen begegnen kann. Das Judentum ist ein Bruder der sokratischen Botschaft.

Das Bewundernswerte an der Großtat Gagarins ist sicherlich nicht seine herrliche Nummer im „Lunapark“, die die Massen beeindruckt; es ist nicht die vollbrachte sportliche Leistung, die die anderen weit übertrifft und alle Höhen- und Geschwindigkeitsrekorde bricht. Mehr daran zählen der Mut und die persönlichen Tugenden Gagarins und die Wissenschaft, die diese Tat und all das möglich gemacht hat, was seinerseits den Geist der Selbstlosigkeit und Aufopferung voraussetzt. Aber was vielleicht mehr als alles andere zählt, ist der Umstand, den Ort verlassen zu haben. Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert — alles um ihn herum war Himmel, oder genauer gesagt, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raumes.

Das Judentum ist in bezug auf die Orte immer frei gewesen. So blieb es dem höchsten Wert treu. Die Bibel kennt nur eine Heilige Erde. Märchenhafte Erde, die die Ungerechten ausspeit, und wo man ohne Vorbedingungen Wurzeln faßt. Wie zurückhaltend ist doch das Buch der Bücher in seinen Beschreibungen der Natur! — „Land, wo Milch und Honig fließen.“ — Die Landschaft spricht sich in Worten der Nahrung aus. In einem beiläufigen Satz: „Damals war die Zeit der ersten Weintrauben“, leuchtet für einen Augenblick eine Traube auf, die in der sengenden Glut einer freigiebigen Sonne reift.

Doch halt! Die Tamarinde, die Abraham in Beerscheba pflanzte! Einer der seltenen „individuellen“ Bäume der Bibel, der in seiner Frische und in seiner Farbe auftaucht, um inmitten so vielen Umherziehens durch so viele Wüsten die Einbildungskraft zu bezaubern. Aber Vorsicht! Der Talmud fürchtet vielleicht, daß wir auf ihren Gesang im Wind des Mittags hereinfallen und darin den Sinn des Seins suchen könnten. Er reißt uns aus unseren Träumen: Tamarinde ist ein Sigel; die drei Buchstaben, die nötig sind, um ihren Namen auf hebräisch zu schreiben, sind die Anfangsbuchstaben der Wörter für Nahrung, Getränk und Wohnung, drei Dinge, die für den Menschen notwendig sind und die der Mensch dem Menschen anbietet. Die Erde ist dafür da. Der Mensch ist ihr Gebieter, um den Menschen zu dienen. Bleiben wir Herren des Geheimnisses, das die Erde ausatmet. Gerade in diesem Punkt vielleicht entfernt sich das Judentum am meisten vom Christentum. Die Katholizität des Christentums integriert die kleinen und anheimelnden Hausgötter in den Heiligenkult und in die lokalen Kulte. Indem es sie sublimiert, behält das Christentum die verwurzelte Frömmigkeit bei, die sich aus den Landschaften und den Erinnerungen der Familien, Stammesgruppen und Nationen speist. Deshalb eroberte es die Menschheit. Das Judentum hat die Götzenbilder nicht sublimiert, es hat ihre Zerstörung gefordert. Ebenso wie die Technik hat auch das Judentum das Universum entmystifiziert. Es hat die Natur entzaubert. Es verletzt durch seine abstrakte Universalität die Einbildungen und Leidenschaften. Aber es hat den Menschen in der Nacktheit seines Gesichtes entdeckt.

Aus dem Französischen von Wilhelm Miklenitsch