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Das Milieu als Protagonist

■ Gilbert Sorrentinos „Steelwork“

Als der Essener Amerikanist Bernd Klähn 1986 erste Auszüge aus Gilbert Sorrentinos Steelwork vorstellte, da wurde ihm sein Hinweis verschiedenenorts begeistert gedankt.

Fünf Jahre sind seitdem vergangen. Im letzten Herbst ist Sorrentinos Roman endlich auf deutsch erschienen — 20 Jahre nach seiner Publikation in den Vereinigten Staaten.

Mit der für deutschsprachige Länder üblichen Verzögerung ist damit nach Pynchon, Gaddis, Hawkes, Coover, Federman und DeLillo ein weiterer wichtiger Vertreter der amerikanischen Postmoderne zugänglich geworden. Dem Maro Verlag gebührt Respekt für das verlegerische Risiko, Joachim Kalka für seine vorzügliche Übersetzung.

Gilbert Sorrentino, Jahrgang 1929, geboren und aufgewachsen in Brooklyn, begann in den fünfziger Jahren, beeinflußt von William Carlos Williams und Ezra Pound, in kleinen Verlagen und in den Literaturzeitschriften 'Neon‘ und 'Kulchur‘ zu publizieren. Mit Steelwork, seinem zweiten Roman, gelang ihm 1970 der literarische Durchbruch. Seitdem sind 18 Bücher erschienen, darunter Mulligan Stew (1979), ein enzyklopädischer Mega-Roman, der sich hinter anderen Großunternehmungen, hinter Pynchons Gravity's Rainbow, Gaddis The Recognitions und JR nicht zu verstecken braucht.

Befragt nach Büchern und Autoren, die ihn beeindruckt haben, hat Sorrentino eine Auskunft gegeben, die so etwas wie ein skizzenhaftes Programm des eigenen Schreibens sein könnte: „Ich mag alles“, hat er erkärt, „was gemacht ist, was arrogant ist, schwierig und zügellos... Ich mag Bücher, die nicht eigentlich gelesen, die nur gedacht werden... Und Autoren? — Neben O'Brien, Pinget, Simon, Cortázar, Ashbery, Creeley vor allem Joyce, Joyce und noch mal Joyce...“

Die episodische Erzählweise des Joyceschen Dubliner ist deshalb auch das Vorbild für sein Steelwork. In 96 Episoden aus den Jahren 1935 bis 1951 (also der Zeit von Prohibition, Zweitem Welt- und Koreakrieg, von McCarthy und seiner Kommunistenhatz), entwirft Sorrentino das splitterhafte Bild eines New Yorker Stadtteils, der von zunehmender Brutalität, von Angst und Not beherrscht wird.

Das scheinbar Unvereinbare der Ereignisse setzt Sorrentino dabei nicht mit Hilfe eines erzählerischen roten Fadens in Szene — ihn interessiert die „Synthetisierung“. Er selbst hat das Strukturprinzip seiner vor- und rückspringenden Erzählweise als ein „musikalisches“ beschrieben, mit kontrapunktischer Technik und „komplementärer Ironie“.

Und sowenig wie es eine erzählerische Chronologie gibt, sowenig gibt es Figuren oder Geschichten, die erzählbar wären. Sorrentinos Interesse gilt nicht einzelnen Figuren und deren Schicksal, ihm geht es darum, den „Charakter“ des spezifischen Milieus zu intonieren.

Das Milieu der Stadt ist deshalb auch der eigentliche Protagonist seines Romans: das Milieu der 68./69. Straße, des Sunset Parks, der U-Bahn, der Wohnblocks, Kinos, Billardsäle, Striplokale, ihrer Anwohner und Besucher, ihrer Stimmen, Sprache, Geräusche, Begierden, Gesten, Gerüche, der Jukeboxes, der Musik Charlie Parkers...

Der Grund für das Unglück des Menschen, räsoniert 1944 einer der „Brooklyners“, liege in seiner Weigerung, „sich über das Niveau der gemeinen Stubenfliege zu erheben“.

Hoffnung — glaubt Sorrentino — biete da nur die Kunst: „Die Funktion des Künstlers ist es, etwas zu machen — und nicht zu erklären, zu lehren, zu enthüllen...“ Die Rettung liege darin, „aus all dem Schrott in der Welt und in unseren Köpfen etwas makellos Schönes zu gestalten“. Das ist ihm mit seinem artistischen Roman über das elende Brooklyn (auch) gelungen. Norbert Wehr

Gilbert Sorrentino, Steelwork. Ein Brooklyn-Roman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka, Maro Verlag, 216 S., 26 DM.

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