: Zwischen KaDeWe und Club Cola
■ Ein Berlin-Roman als Suchtmittel
Grundeis erzählt von sich. Von ganz von Anfang an. Daß er in Stendal geboren ist, daß er in einem Verlag eine Ausbildung machte, daß er nun in Berlin lebe und sein Leben als Kinderbuchautor bestreite. Grundeis erzählt ohne Umschweife von sich und über sich, denn Grundeis muß erzählen: Man verhört ihn. Die Staatssicherheit hat ihn aufgeschnappt und will nun alles wissen. Was ihn, den Schriftsteller mit Dauervisum, am Westen so gereizt habe, und ob das denn stimme, daß er schwul sei. „Voll und ganz, meine Herren“, sagt Grundeis. „Aber es spielt für die hier zu verhandelnden Vorgänge eine verschwindende Rolle.“
Eine ganz andere, aber nicht unwesentliche Rolle spielt Erik Tischbein. Mit guter Westmark auf dem Weg zur Oma nach Ost-Berlin mit Übernachtungsmöglichkeit in Berlin-Tempelhof muß er ausgerechnet ins Abteil des in die heimatliche Ost- Hälfte seines Deutschlands zurückreisenden Grundeis geraten. Ein Mann mit einem steifen Hut auf dem Kopf und einer Tüte Süßkram greifbar in der Tasche, die er Erik auch gleich anbietet. „Ein Schwuler, aha“, denkt Erik, trifft damit also genau ins Schwarze, denkt sich seine Hälfte dazu, und die ist nicht die Beste. Künftig will er die gute Westmark für die Großmutter im Osten noch besser im Auge behalten. Aber als Erik im Bahnhof Zoo aus schweren Träumen, in die ihn das Gerede des Herrn mit steifem Hut hineingelullt hat, erwacht, sind der Herr und auch das Geld verschwunden.
Eine Großstadt sperrt ihren Rachen auf, und Erik, der Junge aus der Kleinstadt, verschwindet darin.
Noch hat dieses Berlin Mauern ringsherum, und noch ist der Osten rot und der Westen golden, noch sind die Stricher am Bahnhof Zoo nur Westberliner und Türken ohne Akzent, noch ist die kleine Berliner Welt in Ordnung, und ein November mit all seinen Folgen längst nicht in Sicht.
Das weitere ist die Geschichte des Erik ohne gute Westmark in dieser so westlichen Stadt auf der Suche nach einem Mann mit Hut und geklautem Geld in der Tasche.
Richtig. Hieße Erik ganz einfach Emil, wäre Friedrich Kröhnke viel einfacher der kleine, aber raffinierte Betrug nachzuweisen: Sein kleiner Roman Grundeis ist nichts anderes als eine Neufassung von Erich Kästners Emil und die Detektive, aber daß dies gar nicht so wenig ist, wird jeder Leser, jede Leserin aufs schnellste bemerken.
Die Detektive sind nicht weit, mit Skateboards unter den Sohlen sind sie schneller als der BVG-Bus bei Berufsverkehr ohne Busspur. Ihr Nachrichtensystem ist ausgefeilter als jeder Postdienst in den nunmehr neuen deutschen Bundesländern, und als dieser Grundeis aufgespürt ist und beim Einquartieren in einem Hotel am Nollendorfplatz beobachtet wird, ist den Jungs auch alles klar: Das ist ein Homo auf Knabenfang. Die Stricherkneipen rings in der Straße werden bald die neuen Besitzer von Eriks gutem Westgeld sein. Erik und die Detektive jagen Mr. Grundeis mit dem steifen Hut und Dauervisum quer durch die Stadt, eine Mauer ist für die Bande keinerlei Hindernis. System- und grenzüberwindend wird die Verfolgungsjagd fortgesetzt, und diese wird in einem großen Finale im Bahnhof Friedrichstraße enden.
Grundeis ist geschnappt, und die Staatssicherheit lauscht seiner Schilderung. Nicht daß man ihn zwingen müßte, Grundeis holt weit aus und erzählt geradezu freimütig und mit offenkundiger Lust. Der ständige Perspektivenwechsel macht's möglich, daß aus Grundeis Kröhnke wird und umgekehrt. Worte wie „herumstreunen“ oder „Cruising“ will Grundeis nicht hören. Er nennt sich Flaneur und weiß sich in guter Tradition von Franz Hessel, Christopher Isherwood und Walter Benjamin. Berlin zu Fuß, und das Dank Dauervisum ohne Mauerhindernis. Die Stasi-Beamten verstehen dies zwar nicht so gut, wir Leserinnen und Leser jedoch um so mehr, ist Grundeis/ Kröhnke doch offensichtlich ein geübter und begabter Flaneur — begabt, die leicht übersehenen Kleinigkeiten des Alltags aufzuschnappen, umzusetzen, aus den Substraten dieser Spaziergänge zu guter Letzt ein richtig schönes Berlin-Buch zu machen.
In seinem letzten Roman Was gibt's heute bei der Polizei? hat der ehemalige Kölner und nunmehr Berliner Friedrich Kröhnke diese Kunst am Beispiel der Domstadt vorgeführt; nun schildert er uns detailliert den Osttteil der Stadt und das für uns so typisch DDR-mäßige zwar so trocken-komisch bisweilen, aber ohne die Überheblichkeit des Westens, und die menschlichen, gesellschaftlichen und sonstigen Gepflogenheiten des Westens mit dem unverständigen Erstaunen des Ostlers. Manches zwischen Ketwurst, Club Cola, Mitropa und KaDeWe-Feinschmeckerabteilung und Billigst-Salami vom Polenmarkt könnte zum reinen Klischee verkommen, aber ist eben doch die reine Wahrheit und bei Kröhnke weit davon entfernt, zur Berlin-Floskel zu verflachen. Kröhnkes Roman Grundeis ist ein literarischer Stadtplan durch das Gesamtberlin der Vor-Wende, durch die Schwulenszene dieser Stadt, von „Wanda's Kleiner Philharmonie“ zur Stricherecke an der Eisenacher-/ Kalkreuthstraße und jenem Lokal, wo, wie die jungen Detektive wissen, „in einem stockdunklen Raum Pornos gezeigt“ werden, „und dazu ficken sich die Kerle, ohne einander zu sehen“. Vieles gäb's noch zu erzählen von dem, was uns Grundeis und Friedrich Kröhnke so alles berichten. Wir aber verraten nicht mehr, lesen noch einmal diesen Roman, weil er in der Tat süchtig machen kann, und kramen dann gleich anschließend noch einmal tief im Bücherregal und ziehen zur vergleichenden Lektüre Erich Kästners Emil und die Dektektive hervor. Und wem dies nicht reicht: Im Berliner Verlag Rosa Winkel warten noch drei ältere Erzählungsbände (Ratten-Roman, KnabenKönig mit halber Stelle, Leporello) auf ihre Entdeckung. Axel Schock
Friedrich Kröhnke, Grundeis, Ammann Verlag, Zürich 1990, 128 Seiten, 29,80 DM.
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