Passionsspiele

Turrinis „Tod und Teufel“ in Hamburg und Berlin  ■ Von Sabine Seifert

Passion heißt Leidenschaft. Spiel ist nicht immer Spaß. Das Passionsspiel hat eine Leidensgeschichte. Um uns außerdem etwas zu lehren, kommt es portionsweise, in Stationen daher, einfach und exemplarisch. Da wird erzählt, wie die Hölle auf Erden gekommen ist, wie sie dort blieb, und doch jemand gen Himmel stieg. Aber was, wenn derjenige nicht mehr nach oben will? Dann spricht der bei lebendigem Leibe Gekreuzigte jenen unglaublichen Satz: „Jetzt hätte ich gerne eine Hand frei.“

„Der Himmel ist auf die Erde gefallen. Es gibt keine Sünde, es gibt keine Vergebung mehr.“

Peter Turrini, der österreichische Autor, hat nicht ausschließlich das Passionsspiel innoviert. Tod und Teufel, im November 1990 in Wien von Peter Palitzsch uraufgeführt, ist eine Kolportage. Da wird ein Bericht zusammengeschustert, eine Geschichte zusammengetragen, wie sie sich nicht unbedingt zugetragen haben muß, sich aber Tag für Tag zutragen kann. Wie sie täglich in einer Boulevardzeitung zu lesen ist, und ist die Geschichte heute erfunden, dann wird sie morgen kopiert. Unglaublich so eine Geschichte, unglaublich wie die von Rudi, der als „einer gegen alle“ antreten möchte. Das Leben ein Film. Der Tod Wirklichkeit. Das Sterben Theater.

Was für ein Theater! Der Pfarrer hat den Kopf in der Schlinge der Kirchturmglocke. Christian Bley ist im Begriff, die größte Sünde, den Selbstmord, zu unterlassen. Vom Stuhl zu steigen, die Kirchenmusik aus dem Ghetto-Blaster auf volle Pulle zu stellen und mit der Pfarrkasse in einer Plastiktüte auf und davon zu gehen. Die Sünde zu suchen, die ein Heiliger nicht kennt. An der Bushaltestelle auf dem Weg in die Stadt begegnet er zum ersten Mal Rudi.

Bley stolpert und fällt in alle Elendslöcher der Welt. Die Liebe lernt der jungfräulich Unberührte bei der älteren stellungslosen Kassiererin Magda kennen, die ihm mit einer Riesenvagina vom Volumen eines Schlauchbootes den Zugang kenntlich macht: mit Alkohol wird alles weiter. Diskret verbirgt die rot leuchtende Gummivagina, was sich dahinter abspielt. Bley bleibt bei Magda in der Wohnung mit den angehäuften Konsumartikeln und den Schokoladen-Osterhasen als Ersatzfamilie, ist inzwischen süchtig, aber „den Menschen nah“.

Hier wühlt jemand im Dreck, aber ist dort die Sünde? Schützling Rudi bringt Bley in die Welt der Waffengeschäfte und des Menschenhandels, wo er Zeuge wird bei der Vorführung der neuesten elektronischen Waffe, die sich, entsprechend programmiert, die Rasse ihres Opfers suchen kann. Aus dem Zeugen wird ein unfreiwilliger Täter, der am Ende verzweifelt und nackt in einem Schließfach am Bahnhof sitzt und den Himmel auf Erden verloren gibt: „Der Himmel ist auf die Erde gefallen. Es gibt keine Sünde, es gibt keine Vergebung mehr. Die Menschen haben Gott die Sünde abgekauft, er kann ihnen nichts mehr vergeben. Sie haben die Stützen des Himmels gefällt.“

„Auf der Welt ist alles verkehrt. Immer das Gegenteil. Die Lebenden sind tot. Die Nacht ist der Tag. Der Schmerz ist die Freude, das Helle ist dunkel. Wer dünn ist, ist dick.“

Tod und Teufel ist praller und drastischer Theaterstoff, eine Geschichte mit vielen kleinen Heiligenbildchen, ein modernes Schauermärchen. Viel kann man dabei eigentlich nicht verkehrt machen, denn Turrinis Regievorgaben sind äußerst konkret. Nur an einigen winzigen Punkten weicht Wilfried Minks, der das Stück in Hamburg inszeniert hat, von der Vorlage ab und ist darum der Berliner Inszenierung von Alfred Kirchner um Längen voraus. Kein Vergleich.

Minks leistet sich kleine Freiheiten und Späße, weil er die Personen der Geschichte beim Wort nimmt. Evelyne, die Tochter des Waffenhändlers Leschitzky, ist ein junges Mädchen, das seiner Verstörung über den Beruf des Vaters nur in der Verkehrung, in der Negation Ausdruck verleihen kann: „Auf der Welt ist alles verkehrt. Immer das Gegenteil. Die Lebenden sind tot. Die Nacht ist der Tag. Der Schmerz ist die Freude, das Helle ist dunkel. Wer dünn ist, ist dick.“ Laut Turrini ist Evelyne magersüchtig, bei Minks ist sie ein dickes pubertierendes Mädchen, das ständig seinen Pullover hochzieht und die Brüste entblößt.

Minks nimmt Turrini auch dort beim Wort, wo ein Leichenschmaus — für die willkürlich der neuen Waffe zum Opfer gefallenen Personen — beim Waffenhändler angesetzt ist. Ein Bankett mit hochgestellten Persönlichkeiten, nach Waidmannsart ausgerichtet, so säbeln die Herren Kannibalen an ihrer fremdländischen Beute. (Bei Kirchner bleiben die Leichen dagegen weniger drastisch in der Mitte des überdimensionierten Tisches liegen, und die Gäste schmausen und löffeln aus leeren Tellern.)

Tod und Teufel wird bei Minks an den richtigen Stellen zur Groteske zugespitzt, ohne dabei den Figuren ihren heiligen Ernst zu rauben. Bley gerät in der Stadt als erstes in ein Sexlokal, wo ihm der Entertainer ein Mikrophon in den Mund stopft, das sein Stöhnen verzerrt überträgt, während sich der Abschlepper zugleich über das Geschlechtsteil des entlaufenen Pfarrers hermacht. In Berlin löst sich dagegen ein Riesenpimmel von der Person, harmlos und nett.

„Jetzt hätte ich gerne eine Hand frei.“

Heilige sind sie alle, Magda, Rudi, Bley. Nichts würde der Geschichte mehr schaden, als ihre Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben, denn nicht sie, sondern ihr Leben ist erbärmlich und lächerlich. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, eine moderne Heiligengeschichte zu erzählen und sie zugleich gegen den Strich zu kehren. Oder wie Turrini selber sagt: Es ist der „Versuch einer anderen Theologie“ — im Theater.

Minks hat wunderbare Schauspieler, allen voran Roland Renner, der einen jungen schmächtigen Pfarrer abgibt, und Christa Berndl, deren Magda spinnert, eigensinnig, naiv und komisch ist und so dem Tragischen der Figur das Anrüchige nimmt. Konstantin Graudus als Rudi hat es schwer gegen die ihm von der Rolle aufoktroyierten Klischees anzuboxen.

Viel schleppender, weniger dicht und vor allem gefälliger ist die Turrini-Kolportage in der Inszenierung von Alfred Kirchner am Berliner Schiller-Theater. Kirchner kann sich nicht entscheiden zwischen Slapstick und Drama, setzt in wichtigen Momenten immer auf das falsche von beiden. Er entschärft, wo er nicht sollte, er verstärkt, wo er nicht dürfte. So wirken seine Figuren immer wieder mitleidsheischend, wie Anneliese Römer als Magda, die mal eine hilflose Alkoholikerin, mal eine bodenständige Alte mit tiefer Stimme spielt, die auch bessere Zeiten gesehen hat. Nur wenigen — wie Dieter Montag als Pfarrer Bley — gelingt es, die Dinge und ihren Leib beieinanderzuhalten.

Kirchners Regie zaudert, schwankt, und wie zielsicher Kirchner in seiner Unsicherheit auf das Falsche setzt, zeigt die Schlußszene. Rudi und Bley haben sich in der Wohnung von Magda verschanzt, die von der Polizei umstellt ist. Rudi spielt seine letzte große Rolle, einer gegen alle. Er wird von einer Maschinengewehrsalve durchlöchert, Blut spritzt auf sein weißes Hemd, tacktacktack. In Berlin lacht das Publikum, als handele es sich um einen lustigen Zeichentrickfilm. Bley nagelt sich an einen Kasten, läßt sich von Magda bei der Kreuzigung helfen. Auch ihr blutet plötzlich die Hand. Alleingelassen beginnt sie, Stück um Stück ihrer Warensammlung auf die Straße zu schmeißen: „Wir brauchen nichts mehr.“ Rudi richtet sich noch einmal auf und kriecht los, ein Scheinwerfer folgt seinem Arm, der sich blutbeschmiert dem gekreuzigten Pfarrer entgegenstreckt. So sieht es Kirchner in Berlin, der pure Kitsch. Minks in Hamburg mißachtet einfach die Regieanweisung Turrinis. Bei ihm rührt sich nichts mehr auf der Bühne. Es ist totenstill, und dann sagt Bley: „Jetzt hätte ich gerne eine Hand frei“.

Peter Turrini: Tod und Teufel . Regie und Bühne: Wilfried Minks. Mit Roland Renner, Christa Berndl, Matthias Fuchs, Gustav- Peter Wöhler, Dieter Mann, Ortrud Beginnen, Konstantin Graudus. Schauspielhaus Hamburg.

Regie: Alfred Kirchner. Bühne: Vincent Callara. Mit Dieter Montag, Oliver Stern, Anneliese Römer, Ulrich Noethen, Dagmar von Thomas. Schillertheater Berlin.