: »Wir müssen hier aus Schiete Konfekt machen«
■ Interview mit Regine Hildebrandt (SPD), Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen in Brandenburg
Frauen sind die großen Verliererinnen des Vereinigungsprozesses. Für 42 Prozent der Frauen in der Ex-DDR hat sich nach einer kürzlichen Umfrage die subjektive Lebenssituation gegenüber dem Vorjahr verschlechtert. Eine Verbesserung empfinden dagegen nur 20 Prozent. Muß sich jetzt eine Arbeits- und Frauenministerin hinstellen und sagen: Tut mir leid, im Kapitalismus können nun mal nicht alle beschäftigt werden?
Regine Hildebrandt: Das muß sie und darf sie nicht. Es ist in der Zeit dieser doch recht merkwürdigen Vereinigung von zwei ganz inkompatiblen Systemen ganz wichtig, auf das zu achten, was am wenigsten zusammenpaßt. Zum Beispiel die Beschäftigung von Frauen: Während bei uns 91 Prozent der Frauen berufstätig waren, waren es im Westen unter 50 Prozent. Die Gefahr, daß wir uns den westlichen Zahlen annähern, ist sehr groß. Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Wir müssen die Frauen verstärkt in die Arbeitsförderung einbeziehen — und zwar mindestens zu dem Prozentsatz, den sie in der Arbeitslosenstatistik stellen. Dabei ist der Qualifikationsstand der Frauen hier wesentlich größer als im Westen. Im Jahre 1989 beispielsweise betrug er in den Fachschulen 70,3 Prozent und an den Hochschulen 48,6 Prozent, und daraus resultierte die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen. Sie waren zwar nicht gleichberechtigt, sie haben auch weniger verdient, aber zum Familieneinkommen haben sie immerhin zu 30 bis 40 Prozent beigetragen, während es drüben nur 18 Prozent waren. Nur zwei Prozent der Frauen in der Ex-DDR betrachten das Hausfrauendasein als ihren Traumberuf. Das heißt: Im Prinzip wollen alle weiterarbeiten.
Was machen Sie denn, um Frauen zu motivieren, sich nicht aus dem Arbeitsmarkt herausdrängen lassen?
Zum Beispiel Überzeugungsarbeit leisten, daß Frauen die ihren Kindern zustehenden Kindergartenplätze auch in Anspruch nehmen, weil sie sonst der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen und nichts anderes mehr sind als Hausfrauen ohne jeden Anspruch. Und indem wir die Kindergärten konkret finanziell unterstützen. Aber die Kommunikation darüber ist ungeheuer schwierig. Ob wir es nun über die zuständigen Dezernenten oder über die Medien versuchen — es klappt einfach zu selten, daß die Informationen wirklich die Betroffenen erreichen. Genauso wie wir hier keine Marktwirtschaft haben, sondern Frühkapitalismus, genauso haben wir wegen der finanziellen Zwänge in den Gemeinden ganz komische Blüten von demokratischer Gestaltung. Deswegen haben wir jetzt Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel ein ABM-Programm, so daß ein Drittel der Kindergärtnerinnen 1992 über ABM bezahlt wird und die kommunalen Haushalte entlastet werden.
Für die Frauen haben sich anscheinend die Negative beider Systeme vereinigt.
Das kann man so sehen. Wir versuchen natürlich gegenzusteuern, auch in anderen Bereichen. Wir sind gegen die Zwangsberatung und die Fristenlösung beim Paragraphen 218, denn die Entscheidung der Frauen muß ohne Kriminalisierung respektiert werden, auch wenn ich die Familie wirklich hochhalte. In Brandenburg bezahlen wir seit Januar die Pille, was in der alten DDR üblich war, aber jetzt durch die Einführung des Bundesrechts weggefallen ist. Viel passieren muß noch bei der Sexualerziehung, der Sexual- und Schwangerschaftskonfliktberatung, auch von anderen Trägern.
Eigentlich müßten Sie doch die Frauen auffordern: Mischt euch ein, demonstriert überall!
Na klar! Nicht unbedingt Demonstrationen, aber daß sie Selbsthilfegruppen organisieren und sich wehren.
Raten Sie den Frauen, sich zu organisieren?
Ja immer! Für mich ist die Vereinzelung und Vereinsamung das Schlimmste. Gerade bei den Landfrauen gibt es eine Tendenz, sich zurückzuziehen und zu kapitulieren. Deswegen bin ich glücklich über solche Initiativen wie in Kyritz, Perleberg, Wittstock, wo sich jetzt ein Landfrauenverein gebildet hat, der bis in unser Ministerium marschiert, um nachzufragen: Wie können wir Kommunikationszentren und Weiterbildung oder Umschulung organisieren? Das ist wunderbar, mit solchen Frauen ziehen wir natürlich an einem Strick. Oder die zehn Frauenhausinitiativen in Brandenburg.
Haben Sie den Eindruck, daß die Gewalt in den Familien infolge der schwierigen ökonomischen Verhältnisse zugenommen hat?
Ja. Die Familien sind ganz besonderen Belastungen ausgesetzt. Das sehen Sie auch an anderen Sozialindikatoren wie der ansteigenden Selbstmordrate oder dem Zurückgehen der Geburtenraten. Und deswegen muß man initiativ werden.
Aber das kann auch richtig Spaß machen. Wir hatten gerade einen zweitägigen Kongreß mit den bisher berufenen 95 kommunalen Gleichstellungsbeauftragten. Das sind richtige gestandene Frauen, die unter den unmöglichsten Bedingungen was auf die Beine stellen, mit einem Tisch und einem Stuhl und einem Berg von Problemen und ohne Telefon. Und trotzdem geben die Frauen nicht auf, und das finde ich fantastisch und erquickend.
Und so erfrischend anders als in der Politik.
Ich komme gerade aus Bonn, deswegen bin ich heute wieder besonders allergisiert. Sie wandeln dort durch gepflegte Gärten um all die hübschen Niederlassungen der einzelnen Länder, alles in bester Ordnung, im Prinzip brauchen sie nur noch Mittagessen zu gehen, und der Fall ist erledigt. Und hier müssen wir aus Schiete Konfekt machen. Die gesetzlichen Grundlagen wechseln ja laufend, alle paar Monate kommt gerade dann etwas Neues, wenn das Alte gerade mühsam gelernt worden ist.
Müssen Sie jetzt die ganze Zeit durchs Land sausen und den Leuten alles erklären?
Ich bin viel in Sachen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterwegs und versuche immer zu erklären: Man kann auch Kulturhäuser über ABM aufbauen oder die alten Kulturzirkel weiterführen. So wie zum Beispiel im Stahlwerk Hennigsdorf. Gerade jetzt muß das alles weitergehen. Wer soll denn die arbeitslosen Jugendlichen auffangen? Warum nicht Fußballzirkel, Sportzirkel, wir haben doch genug Leistungssportler, die wir über ABM bezahlen können. Von allein kommt kein Jugendlicher. Manche gehen jetzt lieber in Sexshops. Mein alter Tante- Emma-Laden in Berlin-Mitte, wo ich mein Leben lang meine Margarine gekauft habe, der ist jetzt ein Sexshop, und hundert Meter weiter steht der nächste. Die Leute müssen doch wirklich was an der Glocke haben.
Und wenn alle Arbeitsbeschaffung nicht funktioniert, weil die Bürokratie und das Arbeitsamt blockt?
Dann müssen die Leute Krach schlagen. Wenn ich ABM immer wieder übers Fernsehen und über Zeitungsinterviews propagiere, dann deshalb, weil ich will, daß sich die Leute darauf verlassen können, daß es funktioniert. Und wenn ich das mal mit Fakten untermauern darf: Im ganzen zweiten Halbjahr 1990 haben wir 3.123 ABM in Brandenburg bewilligt gekriegt. Im Januar 1991 waren es dann schon 2.514, im Februar 2.628, im März 3.000, also sind es jetzt insgesamt 10.000.
Aber meine Vision ist ja die Groß-ABM: Arbeitsbeschaffung für 600 und mehr Menschen, die ihre eigenen maroden Großbetriebe sanieren. Der organisatorische Aufwand zur Genehmigung von 600 statt einer einzigen ABM ist ja fast der gleiche.
Und was sagt die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg dazu?
Die hat das in verschiedenen Fällen schon genehmigt: Zum Beispiel beim Stahlwerk Riesa: Sanierung des Betriebsgeländes durch 600 Kurzarbeiter. Ohne gekündigt zu werden, wurden die Leute in ABM überführt. Das kostete 68 Millionen — die eine Hälfte waren Lohn-, die andere Sachkosten, und das Ganze von der Treuhand verbürgt.
Ist ABM wirklich das Gelbe vom Ei? Im Westen spricht man schon von einem sekundären Arbeitsmarkt. Mit ungesicherten Arbeitsplätzen und ständig wechselndem Personal ist auf Dauer einfach keine sinnvolle Arbeit möglich.
Ja, für mich ist das auch nur Brücke durchs Tal oder eine Krücke oder wie man es nennen will, mehr nicht. Die Frage ist, was man an Alternativen anzubieten hat, und die heißt hier Arbeitslosigkeit, und zwar sofort. Deswegen empfehlen wir, ein Drittel der Kräfte in ABM zu übernehmen, ob bei den Kindergärten oder den Beratungsdiensten der Polikliniken — aber die Kunde aus dem Bundesgesundheitsministerium von Frau Hasselfeld, daß das möglich ist, kam auch schon wieder zu spät. Inzwischen sind schon viele entlassen und viele Einrichtungen kaputtgemacht worden. Es werden vollendete Tatsachen geschaffen, ehe man den eigenen Gestaltungsspielraum ausnutzen kann.
Woher nehmen Sie eigentlich die persönliche Kraft, die Leute immer wieder zu motivieren?
Wissen Sie, ich als berufstätige Mutter mit drei Kindern, in glücklicher Ehe lebend, aber dennoch mit dem Großteil der Hausarbeit belastet - auch wenn mein Mann immer wieder geholfen hat - bin es gewohnt, von morgens bis abends zu arbeiten. Nicht zu gucken: Oh Gott, wie groß ist denn schon wieder der Abwaschberg, sondern anzufangen und durchzuziehen. Für mich ist auch Ansporn genug, immer weiterzumachen, wenn ich sehe, wie groß die Probleme hier sind, wieviel man aber auch bewegen kann.
Wie kommt eine Frau wie Sie mit den männlichen Kollegen im Kabinett zurecht? Dort gibt es ja einige Westimporte...
Manfred Stolpe ist wirklich eine Perle. Er ist der souveräne Regent dieser Runde. Er sagt nicht viel, er läßt die Sache ausdiskutieren und gestaltet den Prozeß. Das ist manchmal ziemlich mühsam. Für mich ist günstig, daß Stolpe ein soziales Grundengagement hat. Nehmen Sie das Beispiel Wohngeld. Wir kommen ja mit unseren Mieten hier nicht hin. Wenn wir sofort Wohngeld einführen würden, würde die Bundesregierung 50 Prozent der Kosten tragen. Wenn wir es aber nicht tun, müssen wir die Kosten tragen. Da sagen natürlich der Wirtschaftsminister, der Bauminister, der Finanzminister: Wir müssen das sofort einführen. Und ich sage dann, so geht das nicht! Unsere Ämter sind ja nicht mal in der Lage, unsere Arbeitslosengelder pünktlich zu bezahlen, und dann wollen wir Wohngeld für 90 Prozent der Bevölkerung einführen! Das vertritt Stolpe dann, auch vor dem Bundeskanzler: Solange nicht eine vereinfachte Wohngeldregelung gefunden wird, muß man mit der Mieterhöhung warten.
Haben Sie persönlich noch so etwas wie Utopien, oder geht das in den drängenden Problemen des alltäglichen Regierens unter?
Na klar habe ich das, und gerade für Brandenburg, wenn ich das wieder ein wenig praxisbezogen formulieren darf. Ich wünsche mir, daß wir das Land Brandenburg um die Metropole Berlin herum als Oase erhalten können — für Erholungszwecke und zum Schutz der Natur, sofern noch vorhanden. Jetzt haben wir doch die Gestaltungsmöglichkeiten. Ich wünsche mir, daß wir jetzt nicht die gleichen Fehler machen wie in der Bundesrepublik nach 1945. Da wurden Autobahnen gebaut und Häuser abgerissen, alles mußte modern sein, technisiert und amerikanisiert. Bei uns ist die Natur zum Teil zwar verseucht, zum Teil aber auch noch in urtümlichem Zustand erhalten. Wenn wir es doch jetzt nur schaffen würden, diese Phase mit einer Neugestaltung unter ökologischer und historischer Verantwortung zu überspringen. Es gibt so viele Projekte hier, zu denen wir im Moment einfach nicht kommen: die Parks auf Vordermann zu bringen, die Herrenhäuser, die Schlösser, Ökolandwirtschaftsprojekte, sanften Tourismus mit kleinen Hotels. Die Menschen müssen zufriedener werden, nicht so wie im Westen, wo man nur immer Karriereplanung und Anhäufung von Wohlstand im Kopf hat. Ich wünsche mir, daß wir das alles überspringen und zu einem Bewußtsein kommen, wie es teilweise durch die Grünen in der BRD geschaffen wurde. Das wäre meine Vision: Ein bescheideneres, ein natürlicheres und trotzdem ein schönes Leben.
Und der Silberstreif am Horizont, den Herr Stolpe für die Ex-DDR gesichtet hat, wo bleibt der?
Naja, mit meiner doch etwas weltfremden Vision hat der nichts zu tun, das gebe ich zu. In Realität sieht das anders aus: Bei Oranienburg wird jetzt ein großes Gewerbegebiet plus Einkaufszentrum angelegt, in Schönfließ soll ebenfalls ein riesiges Einkaufszentrum mit über 1.000 Arbeitsplätzen gebaut werden, obwohl die Leute in den umgebenden Ortschaften extrem dagegen sind. Die Argumentation lautet, nur so kann man die Kaufkraft hier halten, sonst fahren alle nach Berlin, und das ist ja auch richtig.
Andererseits haben wir ja schon große Industriegebiete hier, die bloß verseucht und extrem desolat sind. Und deshalb möchte ich die in meine Vision einbeziehen: Sie sollen mit ABM saniert und neu zur Verfügung gestellt weden. Und damit müssen wir uns auch beeilen, sonst werden erst mal die Bäume nebenan abrasiert, und der Dreck stinkt weiter. Die Sanierung, die den Keim neuer Arbeitsplätze in sich trägt, wäre für mich der Silberstreifen am Horizont.
Sie müssen mal überlegen: Für 428.000 Arbeitslose oder Kurzarbeiter in Brandenburg haben wir im Monat März ungefähr 10.000 neue Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten. Und dann hört man von Bonn aus: »Sollen sie doch endlich mal die Ärmel hochkrempeln nach 40 Jahren Nichtstun.« Das liebe ich so sehr. Oder die Sprüche: »Nun hat man schon die Millionen auf den Weg geschickt.« Zum Beispiel für die Polikliniken. Bloß dummerweise haben sie inzwischen die Bankleitzahlen geändert, so daß von elf Millionen Mark sechs Millionen zurückgeschickt worden sind. Manche Kliniken hatten kein Geld mehr, um ihre Leute zu bezahlen, und mußten Kredite mit bis zu 16 Prozent Zinsen aufnehmen. Oder die Verantwortlichen haben sich in ihren Trabant gesetzt und sind zur Kassenärztlichen Bundesvereinigung nach Köln gefahren, um zu fragen, wo das Geld geblieben ist. Solche Wahnsinnsgeschichten könnte ich stundenlang erzählen...
Sie sollten mal ein Buch schreiben...
Wenn ich mich aus der Politik zurückziehe, was? Nee, da hab ich was anderes vor.
Können Sie sich vorstellen, daß der Tag kommt, an dem Sie sagen: Jetzt kann ich nicht mehr?
Tja. Ich bin eigentlich kein Mensch, der aufgibt. Zu Anfang in der Regierung von de Maizière, da ist mir die Arbeit mächtig an die Nerven gegangen. Das ist jetzt nicht mehr. Von alleine höre ich nicht auf. Einfach weil es nicht so sein darf. Es war ja die ganze Zeit die Frage der Alternativen. Zum Beispiel beim Einigungsvertrag: Es war uns doch gleich klar, was das für eine Kiste ist. Bloß: Der Vertrag war von zwei schlechten Möglichkeiten noch die bessere. So geht es jetzt laufend mit den Entscheidungen, vor die wir gestellt werden. Man muß immer nur überlegen: Was richtet weniger Schaden an? Das Gespräch führten Kordula Doerfler
und Ute Scheub
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