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Nicht nur die Leute vom E-Werk essen kostenlos

Chinas Schattenwirtschaft wuchert immer mehr/ Die Korruption der Funktionäre als unumgängliche Ergänzung/ Die Sonne ist nah, der Kaiser weit  ■ Aus Peking Tony Wang

Laut, schmuddelig und verräuchert ist es im staatlichen Restaurant „Shanghai“. Die Speisekarte greift sich speckig an, und das Essen ist mittelmäßig, aber billig. Die Gäste können sich hier bestenfalls geduldet fühlen, doch sie mucken nicht auf.

Nur wenige Schritte weiter liegt die Garküche von Herrn Li. Die Decken auf den sechs Tischen sind blütenweiß, die Stäbchen geschrubbt und die Gerichte vorzüglich. Dafür ist es etwas teurer: Li ist getihu, privater Kleinunternehmer, als „Ergänzung zur Volkswirtschaft“ toleriert — aber nur gerade so.

Einer der Tische ist ständig besetzt, hier wechseln sich Gäste in Kaderanzügen ab, die exquisit tafeln: Seegurke, die teuren Shandong- Krabben, Karpfen süßsauer und andere Delikatessen. Dazu werden ätzender Hirseschnaps und Unmengen vom beliebten Qingdao-Bier serviert. Nach beendetem Mahle stehen sie auf, rülpsen gönnerisch und ziehen ab — ohne zu bezahlen.

Herr Li klärt uns auf: Ohne diese Gästerunden läuft nichts. Heute die Steuer, morgen die Hygiene, übermorgen die Marktverwaltung, dann die Leute vom Elektrizitätswerk, die Verkehrspolizei des Stadtbezirks, die Kohlelieferanten... Nur ein paar Mark kostet die Lizenz. Doch um all diejenigen zu schmieren, von denen er abhängt, muß Li ständig einladen, auch Bares rüberschieben, sonst stellen die „Inspektoren“ Mängel fest, sperren den Strom oder kassieren die Lizenz ein.

Wie eine Krake greift die Korruption in alle Bereiche des Lebens. Sie ernährt sich von Schlamperei, Vetternwirtschaft, planmäßiger Trägheit und krimineller Verantwortungslosigkeit der Behörden oder der Geldgier ihrer Diener. Und immer dann, wenn die Führung zu neuen Attacken gegen das Übel trommelt, steht es besonders schlimm um die Staatswirtschaft und gut um die Akteure im Schatten. Der Sozialismus chinesischer Prägung ist trotz voller Märkte eine Mangelwirtschaft. Sie bietet nicht nur Gesetzeslücken und Grauzonen, sondern programmiert das Geschäft an Staat und Legalität vorbei — fast immer haben hohe Kader die Hand im Spiel.

La guanxi, Beziehungen knüpfen, oder zou houmen, durch die Hintertüre gehen, ist in China unumgänglicher Teil der Überlebenskunst. Wer einen Studienplatz an einer renommierten Universität für seinen Nachwuchs oder die Fahrerlaubnis ohne Prüfung will, wer einen Reisepaß oder eine Arbeitsstelle in einem Joint-venture braucht, kommt mit Geld oder anderen Gegenleistungen rasch ans Ziel. Die großen Geschäfte der Schattenwirtschaft laufen jedoch über andere Kanäle, und die versiegen trotz aller periodischen Regierungskampagnen nicht.

So registrierte die Staatsverwaltung für Industrie und Handel Anfang April eine drastische Zunahme illegaler Einfuhren. Wurden früher Uhren, Zigaretten und Alkohol geschmuggelt, so sind heute japanische Farbfernseher und Videorecorder die Renner. Ausgeführt werden vor allem Antiquitäten. Besonders groß ist seit kurzem der Drang zu Drogen und Luxuslimousinen.

Drogen sind ein weiteres wichtiges Geschäft. Zum bedeutendsten Umschlagplatz nach China ist mittlerweile Dehong im Süden der Provinz Yunnan geworden, an der Grenze zum „goldenen Dreieck“. Die Tendenz geht vom Opium zum Heroin, die Konsumenten werden jünger, und die Preise steigen. Allein 1990 sind in der Provinz rund 250 Menschen wegen Drogendelikten hingerichtet worden, zumeist öffentlich. In der streng überwachten Grenzregion passiert indessen kaum etwas ohne Wissen der Behörden — sie hängen oftmals mit drin.

Und während in Südchina immer mehr Luxusautos mit Rechtssteuerung auftauchen, häufen sich in Hongkong die Meldungen über Autodiebstähle. Die Wagen werden nachts an einsamen Stellen der Kolonie verladen und auf hochgepowerten Schnellbooten an die südchinesische Küste gebracht. Zentrum der Deals ist die Tropeninsel Hainan, die als „Sonderzone“ kaum kontrolliert wird und die heißen Schlitten gegen einen riesigen Aufpreis nach Norden verschifft. Sie tauchen dann als „Dienstfahrzeuge“ hochrangiger Kader auf — Privatpersonen dürfen Westwagen gar nicht kaufen. Die Polizei in Hongkong ist sicher, daß viele der nächtlichen Bootsrennen von der kapitalistischen Kolonie zur sozialistischen Küste von chinesischem Zoll und der Polizei inszeniert werden.

Zu den lukrativsten Transaktionen zählt auch der Handel mit Rohstoffen, der ohne die Beteiligung hoher Funktionäre undenkbar ist. Shanghai beispielsweise, das Zentrum der Verarbeitungsindustrie, hat keine eigenen Rohstoffe. An den offiziellen Wirtschaftsplänen vorbei werden deshalb Seide aus Zhejiang und Jiangsu, Kohle aus Shaanxi oder Mineralien aus den Inlandprovinzen in die Stadt geschafft. Die wiederum revanchiert sich mit Industriewaren, Markenartikeln zumeist, die andernorts Mangelware sind. Die zweite Schiene: Strohmänner und Briefkastenfirmen kaufen staatlich subventionierte Rohstoffe billig auf und geben sie an genossenschaftliche, private oder auch andere Staatsbetriebe weiter, deren Kontingent nicht reicht. Die Gewinnspanne liegt bei 300 Prozent, und allen ist geholfen — die Sonne ist nah, der Kaiser weit.

Und dann ist da die Schwarzarbeit. Rund 90 Millionen Menschen gehen alljährlich auf Wanderarbeit. Vor allem nach dem chinesischen Frühjahrs- oder Neujahrsfest belagern sie Bahnhöfe und Plätze in Großstädten wie Peking, Kanton oder Shanghai. Ohne Wohnung, soziale Absicherung und oft auch ohne Rückfahrkarte werden sie zum Freiwild für Betriebe und Werkstätten, die die ohnehin niedrigen Löhne weiter unterlaufen. Die Leute vom Land nehmen alles, denn die daheim freuen sich schon, wenn sie im Monat 30 Yuan geschickt bekommen — zehn Mark. Die Kommunen und die Polizei jammern über die Zuwanderer, die Hygiene und öffentliche Ordnung in Frage stellen. Staatsbetriebe aber, die Wanderarbeiter, oftmals Kinder, einstellen, werden nur in Ausnahmefällen bestraft — Hauptsache, sie erfüllen den Plan.

Schiebereien mit harten Währungen, illegale Gebühren für Dienstleistungen und der Handel mit Funktionärsprivilegien runden das Bild. Chinas Generalstaatsanwalt Liu Fuzhi meldete anfang April 94.600 Fälle von Unterschlagung und Bestechung im vergangenen Jahr. Doch die Dunkelziffer liegt weit höher und die Schuldigen sitzen oftmals an den Schalthebeln der Macht. Die prominentesten Täter der letzten drei Monate: der Verkehrsminister, der stellvertretende Eisenbahnminister, der Vize-Provinzchef von Qinghai und der Parteichef von Luoyang.

Sie verloren ihre Posten, aber wenig mehr. Unter den 31 im vergangenen Jahr wegen Unterschlagung oder Bestechung Hingerichteten befand sich hingegen kaum ein Funktionär. Wenige Gramm Drogen, die Veruntreuung von 10.000 Mark oder ein Porno-Deal indessen können schon mit dem Tode bestraft werden — die Kleinen sind dran. Die Eminenzen der Schattenwirtschaft bleiben auf Posten: Sie werden gebraucht.

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