: Parlament will sich nicht überprüfen
■ Die Vergangenheit von Abgeordneten soll Privatsache bleiben/ Nur wenn sie zustimmen, darf bei Stasi-Verdacht das Parlamentspräsidium ermitteln
Berlin. Großes Aufatmen im Parlament: Eine routinemäßige Überprüfung der 241 Mitglieder des Abgeordnetenhauses auf ihre Stasi-Vergangenheit wird es nicht geben, beschloß gestern der Rechtsausschuß. Bei einem begründeten Vorwurf einer früheren Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit könne das Präsidium gegen Abgeordnete nur ermitteln, wenn die Betroffenen zustimmen, so sieht es der SPD/CDU-Antrag vor, gegen den nur die FDP und die AL/Bündnis 90 gestimmt hatten — die PDS enthielt sich.
Mit dem Antrag wird aber auch die Möglichkeit eröffnet, daß Abgeordnete ohne einen solchen Vorwurf Ermittlungen gegen sich beantragen können. Hanna-Renate Laurien, Parlamentspräsidentin, Reinhard Führer, ihr Vize, und der Abgeordnete Volker Liepelt (alle CDU) nahmen diese Gelegenheit noch gestern wahr. Mit diesem Schritt wollen die drei weitere Parlamentarier, über deren Vergangenheit »geredet« werde, ermutigen, Ermittlungen gegen sich selbst zu beantragen.
Hans-Georg Lorenz, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, wendete sich gestern gegen eine generelle Überprüfung, weil damit einer der wichtigsten demokratischen Errungenschaften — die Unabhängigkeit von Abgeordneten — außer Kraft gesetzt würde. Volksvertreter seien schließlich deshalb unantastbar, weil sie neue politische Gedanken formulieren und Gesetze ändern sollen, erklärte Lorenz der taz. Deshalb sei es auch kein Widerspruch, daß Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegen müßten, denn sie sollen Gesetze ausführen. Das Parlament könne allerdings glaubwürdig bleiben, wenn seine Mitglieder sich freiwillig überprüfen lassen. »Ich wünsche mir, daß das alle machen«, sagte er.
Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von AL/Bündnis 90, forderte eine generelle Durchleuchtung, damit Verdächtigungen möglichst schnell geklärt werden könnten. Nur so könne das Parlament glaubwürdig bleiben. Bei dem SPD/CDU-Antrag sieht die Vertreterin der Oppositionspartei die Gefahr, daß über Jahre Vorwürfe ungeklärt im Raum stehen könnten — dies würde das Parlament viel mehr belasten. Die Regierungskoalition ziele mit ihrem »Verkleisterungsantrag auf Vertuschung«. AL/Bündnis 90 war die einzige Fraktion, die einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß forderte. Der Ausschuß hätte das Recht, Zeugen zu vernehmen und Akten einzusehen und nicht nur gegen Stasi-Seilschaften zu ermitteln, sondern sollte auch Verbindungen zu westdeutschen und alliierten Geheimdiensten untersuchen. Über den Antrag wird demnächst im Innenausschuß abgestimmt. Er wird wahrscheinlich abgelehnt werden. Künast bemängelte an dem Regierungsantrag darüber hinaus, daß das Präsidium Vorwürfe prüfen solle. Erstens sei diese Institution nicht dafür zuständig, und zweitens wäre ein Untersuchungsausschuß vermutlich mit qualifizierteren Abgeordneten besetzt.
Ob das Präsidium wenigstens die gleichen Rechte haben soll wie ein Untersuchungsausschuß, ist in dem Antrag nicht geklärt. Dirk Wildt
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