: ...und am Ende nur noch deutsche Rotarmisten
■ Klaus Jünschke schreibt für die taz über die Schieflagen der Diskussionen nach dem Mord an Detlev Rohwedder, die Selbstgerechtigkeit der RAF-Jäger, die notwendige Zusammenlegung der Gefangenen und das Stammpersonal der letzten Rotarmisten. Der Autor gehörte der ersten RAF-Generation an und wurde 1988 nach 16 Haftjahren begnadigt.
In einer Fernseh-Talkshow wies Stefan Aust Anfang des Monats darauf hin, daß die Justiz wesentlich mitverantwortlich dafür ist, daß man sich 1991 immer noch mit dem Thema RAF auseinanderzusetzen habe. 1972 — nach der Verhaftung der gesamten ersten Generation — war der Versuch, mit militärischen Mitteln linke Politik in der Bundesrepublik zu machen, gescheitert. Ohne die Isolationshaft, die Prozesse in den Sondergerichtsgebäuden und die eigens zu den Prozessen geänderten Gesetze hätte es keine Antifolterkomitees gegeben und damit kein Rekrutierungsfeld für eine neue RAF. Auch wenn man die einzelnen Mitglieder des heutigen RAF-Kommandos nicht kennt, ist davon auszugehen, daß die allermeisten sich im Umkreis dieser Antifolterkomitees politisiert haben und von da zur RAF gestoßen sind.
Selbst bei den Staatsschutzbehörden gibt es nur noch Minderheiten, die sich gegen diese Einsicht sperren. Gerade für die Antiterrorismus- Einheiten der Nachrichtendienste und der Polizeien war es deutlich, daß alle, die seit Mitte der 70er Jahre als RAF-Mitglieder verhaftet wurden, alte Bekannte aus der Observation der Aktivitäten der Antifolterkomitees waren.
Der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, Christian Lochte, sprach in der Talkshow offen aus, daß genau aus diesen Gründen in den letzten Jahren Entscheidendes zur Verbesserung der Haftbedingungen getan worden sei — um der RAF keine Möglichkeit mehr zu lassen, mit diesem Thema neue Leute zu rekrutieren. Warum die Sicherheitsbehörden dazu 15 Jahre brauchten, hat Lochte nicht erklärt, wurde er auch nicht gefragt. Wieso es überhaupt zur Isolationshaft kommen konnte in einem Staat, der mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten das Grundgesetz, seine Verfassung, beginnen läßt, blieb gleichfalls unerörtert.
Die RAF hat mit der Ermordung Rohwedders erneut auf den Zusammenhang von Haftbedingungen und Fortexistenz der RAF verwiesen: Das Kommando, das sich zu dieser neuesten Hinrichtung bekannte, gab sich den Namen Ulrich Wessel. Ulrich Wessel gehörte zu den sechs RAF-Mitgliedern der sogenannten zweiten Generation, die im Mai 1975 mit der Besetzung der Botschaft in Stockholm und der Geiselnahme der Botschaftsangehörigen versuchten, die erste Generation zu befreien. Um der Bundesregierung zu vermitteln, wie tödlich ernst es ihnen damit war, erschossen sie zwei Botschaftsangehörige. Für die Befreiung von Gefangenen zu töten, sahen sich die Botschaftsbesetzer berechtigt, weil Holger Meins wenige Monate zuvor nach sechs Wochen Hungerstreik im Gefängnis von Wittlich verhungert war. Wittlich liegt in Rheinland- Pfalz.
Der Mainzer CDU-Bundestagsabgeordnete Gerster und der ehemalige CDU-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel — zusammen neben Stefan Aust, Bommi Baumann und Christian Lochte Gäste der Talk-Runde — protestierten emotional so heftig gegen die „angebliche Isolationshaft“, daß Bommi die Spucke ganz wegblieb und Stefan Aust, dem profunden Kenner des „BM-Komplexes“, nur noch einfiel, auf die Inhaftierung von Ulrike Meinhof in einem Toten Trakt in der JVA Köln-Ossendorf zu verweisen. Das wollte in dieser selbstgerechten Runde keiner hören. In ihrem Bemühen, dem bißchen Vernunft, das in die Auseinandersetzung Staat—RAF in den letzten Jahren gekommen ist, den Rest zu geben, wischten Vogel und Gerster jeden Gedanken an eine Mitverantwortung des Staates oder einzelner Behörden widerspruchslos beiseite. Es sei ja jetzt offenkundig, daß die RAF von der Stasi am Leben gehalten worden sei. Der Rest der Runde ließ sich damit ausknocken und war am Ende so groggy, daß man den Eindruck haben mußte, Vogel und Gerster hätten tatsächlich was zu sagen.
Vor 25 Jahren haben diese Herrschaften der Protestbewegung die Lust am Demonstrieren mit diesem „Geht-doch-nach-drüben-wenn-es- Euch-hier-nicht-paßt!“ zu nehmen versucht. Zwar ist „drüben“ jetzt „hier“, aber was hier von Übel ist, dafür ist jetzt die Stasi verantwortlich. In der Abwehr der Einsicht in die eigene Mitverantwortung dürfte auch dieser eigenartige Versuch wurzeln, die schlechte öffentliche Meinung über Stasi und RAF dadurch noch schlechter erscheinen zu lassen, daß man ihre Zusammenarbeit zum Gipfel aller Schändlichkeiten stilisiert. Daß damit die Bevölkerung der neuen Bundesländer einmal mehr zum Objekt dieses arroganten Bon(n)zentrismus wird, stört diese Herren wenig. Die Inhaftierung von Stasi-Leuten wegen Unterstützung der RAF und nicht wegen der Drangsalierung der gesamten Bevölkerung der DDR — das werden die doofen Ossis in 10 bis 20 Jahren schon einsehen. Tatsächlich gilt auch hier: Wer über die weltweite Waffen- und Ausbildungshilfe für Folterregimes durch Bundeskriminalamt (BKA) und GSG9 und die Geheimdienste schweigt, der sollte auch von der Stasi-RAF-Connection schweigen.
Die RAF hat auf der Gegenseite, in den Parlamenten, bei den Sicherheitsbehörden, der Justiz und den Medien ganz offensichtlich die bornierten Partner, die sie unbedingt braucht, um nach 20 Jahren Terrorismus wenigstens noch die 30 voll zu machen. Die Rote Armee der Sowjetunion dürfte bis dahin umbenannt und umstrukturiert sein. Eine Vielzahl neuer Republiken in Osteuropa wird dann ihre eigenen Bundeswehren haben. Dann hätten wir am Ende dieses Jahrtausends auf dem europäischen Kontinent nur noch deutsche Rotarmisten.
Ob es das ist, was die Bundesanwälte wollen, die den neuen Haftbefehl gegen Peter-Jürgen Boock durchgesetzt haben? Warum wird nicht öffentlich thematisiert, daß es Fragen aufwirft, wenn eine Behörde Einspruch dagegen einlegt, daß ein Werner Lotze wegen Polizistenmordes aus ihrer Sicht mit 12 Jahren zu hart bestraft ist (obwohl er auch davon vermutlich gerade mal sechs abzusitzen hätte) und für einen Peter- Jürgen Boock, kurz vor der Genehmigung des Freigangs, wegen eines neuen Haftbefehls die Entlassungsvorbereitung auch im 10. Haftjahr nicht mal aufgenommen werden darf.
Bei den CDU-Landespolitikern, die in den Landtagen von Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen und anderswo gegen die Zusammenlegung von RAF-Mitglieder wettern und die behaupten können, daß die Sicherheit ihres Landes durch die Zusammenlegung bedroht ist, ohne daß jemand lacht, ist die Motivlage durchsichtig.
Nachdem das Nachrichtenmonopol der US-Army während des Golfkrieges und die Rolle der Fernsehanstalt CNN immerhin noch kritisch unter die Lupe genommen worden ist, fragt hier kein Journalist öffentlich, wie es denn kommt, daß die Polizei behaupten kann, die gesuchten RAF-Leute hinterließen keine Spuren, weil sie hinzugelernt hätten, während gleichzeitig alle paar Monate bei den Zellenrazzien schriftliche Unterlagen sichergestellt werden, die angeblich Auskunft über eine Steuerung der RAF aus den Zellen heraus geben. Bei vielen Journalisten scheint sich irgendwas im Kopf verwischt zu haben. Dabei ist es natürlich all diesen Journalisten, die sich ihre Brötchen mit Terrorismus- Berichten verdienen, bekannt, daß die Gefangenen nach jedem Terroranschlag die Stunden zählen können, bis die Tür aufgeht und die Damen und Herren des BKA und der Bundesanwaltschaft sich wieder einmal über die von der Knastzensur schon längst gesichteten Unterlagen hermachen. Wenn dann die Gefangene Haule-Frimpong irgendwas von „Aktionen“ schreibt, dann wird nicht lange nachgefragt, in welchem Zusammenhang das steht, was damit genau gemeint ist. Es ist aber allemal gut für einen gelben Balken auf der Spiegel-Titelseite: „Attentat auf Rohwedder. RAF-Warnung aus der Zelle“.
Im übrigen gehören Kasssiber zum Gefängnisalltag wie die Postzensur. Wenn man die Gefangenen jetzt endlich nicht länger absondert und in den Normalvollzug läßt, sollte man von ihnen nicht mehr verlangen als von allen anderen Gefangenen auch. Wenn sie nicht die Mustergefangenen spielen müssen, müssen auch die Justizminister nicht länger fürchten, bei jedem Häftlingsfurz zum Rücktritt aufgefordert zu werden. Menschlich wäre es, sich zu wundern, daß in den Zellen nicht ständig die ausgeflipptesten Texte gefunden werden, ist doch die Situation von Gefangenen auch im Normalvollzug demütigend und die immer wiederkehrende Erfahrung die der eigenen Ohnmacht. Wieviel Selbstdisziplin muß es kosten, um nicht wenigstens ab und zu mal in einem verbalen Amoklauf dem Druck nachzugeben, der in so einer Situation auf einem lastet?
Gegen Mißverständnisse: Es geht nicht um Mitleid. Aber wer wirklich will, daß das Töten aufhört, muß sich auch der Realität der Gefangenen aussetzen. Der einfachste Weg dazu wäre, sie direkt zu Wort kommen zu lassen. Es gibt auch Journalistinnen und Journalisten, die das versuchen. Ich weiß, daß es welche gibt, die die Zusage von Gefangenen aus der RAF für ein Interview haben. Die zuständigen SPD-Landesjustizminister verbieten diese Interviews. Die Gefangenen sollen erstmal öffentlich abschwören. Auch das findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Warum?
Will man verhindern, daß die Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt, daß die RAF-Leute eine eigene Moral haben? Die ist bekannt. Verschiedene Industrielle haben den Strafverfolgern drei Millionen DM für Hinweise auf die RAF zur Verfügung gestellt. Nachdem schnell deutlich wurde, daß diese Aktion erfolglos blieb, mußte sie abgeblasen werden, damit kein gegenteiliger Effekt von diesem Aufruf ausging. Im Unterschied zu vielen Politikern muß man den RAF-Leuten lassen, daß sie nicht käuflich sind. Auch die Kronzeugenregelung hat daher keine Aussicht auf Erfolg. Warum darüber schweigen, daß es diese Unversöhnlichkeit ist, die der RAF trotz aller Morde Sympathisanten und möglicherweise Nachwuchs erhalten hat? Warum sie nicht selbst fragen, wieso die Tugend der Nicht-Käuflichkeit in ihnen eine so mörderische Gestalt angenommen hat?
Ein anderes Element dieser eigenen Moral ist der Gruppenzusammenhalt. Auch das wird in einem Land, in dem schon so oft in fest geschlossenen Reihen marschiert wurde, eher positiv bewertet. „Right or wrong — my country.“ Auch das muß man nicht gut finden. Aber man muß es zur Kenntnis nehmen. Anders ist der Stellenwert, den die Zusammenlegungsforderung für die Gefangenen hat, nicht zu verstehen. Immerhin haben sich einige von ihnen dafür im letzten Hungerstreik in Lebensgefahr begeben. Und immerhin dürfte das der Hauptgrund dafür sein, daß zum Beispiel Irmgard Möller noch nicht entlassen ist. Sie wurde am 8. Juli 1972, eine Stunde nach mir, in Offenbach verhaftet. Diesen Sommer beginnt ihr 20.Haftjahr. Als ich in Kiel mit dem Justizminister und bei einer Tagung mit dem Gefängnisleiter sprach, weil ich wissen wollte, ob es überhaupt die Bereitschaft gibt, sie zu entlassen, hatte ich den Eindruck, daß man ihr am liebsten einen Räumungsbefehl schicken würde. Besucher von Irmgard Möller haben den Eindruck, daß sie erst entlassen werden will, wenn es auch für die anderen Gefangenen aus der RAF eine Perspektive in Richtung Freiheit gibt.
Damit sind wir wieder bei den Forderungen bzw. der Perspektive der Gefangenen vom letzten Hungerstreik: Zusammenlegung, Diskussion untereinander, Diskussion nach außen, Freiheit. Es geht folglich für diese Gefangenen nicht um Hafterleichterungen, wenn es um die Haftfrage geht. Es geht um die kollektive Aufarbeitung ihrer Geschichte.
Wenn es überhaupt eine Gruppe in dieser Republik gibt, die Einfluß auf das RAF-Kommando nehmen kann, dann sind es diese Gefangenen. Sie sollten daher die Möglichkeit erhalten, ihre Geschichte gemeinsam zu diskutieren. Sollten sich dabei diejenigen durchsetzen, die meinen, die RAF sei weiter notwendig, hat man es wenigstens probiert.
Dafür, daß es unter den Gefangenen zumindest eine Reihe von Leuten gibt, die den „bewaffneten Kampf“ zu einem abgeschlossenen Kapitel ihres Lebens machen wollen, spricht seit dem letzten Hungerstreik sehr viel. Trotz aller aufregenden Meldungen über Zellenfunde und Steuerung von Aktionen aus der Zelle — seit dem letzten Hungerstreik gibt es von den Gefangenen keine Aufrufe mehr für einen bewaffneten Kampf in der Bundesrepublik.
Auch aus dem Umfeld der RAF gibt es Hinweise für den Wunsch, die RAF möge endlich mit ihrer Hinrichtungspolitik aufhören. Nach zwanzig Jahren politischer und menschlicher Solidarität mit den RAF-Mitgliedern hat vor einem Jahr der Schriftsteller Christian Geissler die RAF in einer hundertseitigen Flugschrift zur Einstellung des „bewaffneten Kampfes“ aufgefordert (kamalatta-flugschrift 2: dissonanzen der klärung). Die RAF antwortete ihm nicht.
Dafür schrieben die Mörder von Rohwedder in der neuesten Kommandoerklärung unverdrossen von Menschenwürde. Aber selbst in Sympathisantenkreisen hat es sich herumgesprochen, daß zur Grundlage jeder emanzipatorischen Politik gehört, das Existenzrecht eines jeden Menschen zu respektieren, und daß ihr Kriterium die Verminderung menschlichen Leids ist. Mit Trauer fragt eine „Hanna Cash“ aus Hamburg-Altona in einem neuen Diskussionspapier zur RAF: „Was wäre wohl aus der DDR und den anderen sozialistischen Staaten geworden, wenn diese ständige elende Defensive nicht gewesen wäre, bloß nicht öffentlicht über Fehler, Schwächen, Zweifel zu diskutieren, mit dem Argument, dem Klassenfeind nicht Gelegenheit geben zu wollen, seine antikommunistische Hetze damit zu unterfüttern?“
Hatte die RAF in ihren Anfängen die Attentate wenigstens noch verbal als Notwehr und mit der Rettung von Leben in der Dritten Welt zu rechtfertigen versucht, so ist dieser Zusammenhang bei den Morden der heutigen Aktivisten der RAF vollends zerrissen. Sicher nicht, weil sie moralisch schlechter wären als die erste Generation. Sie sind nur viel schlechter dran.
Die erste Generation hatte nicht den Mut und nicht die Möglichkeit, vielleicht auch nicht die Zeit, um gemeinsam zuzugeben, daß sie gescheitert ist. Die zweite Generation hatte nicht den Mut und nicht den politischen Anstand, öffentlichzumachen, was sie 1977 alle wußten, nämlich daß sich die Gefangenen in Stammheim selbst getötet haben. Und auf diesen Bus ließ sich diese dritte Generation ziehen, Leute, die sich in einem Klima der absoluten Unduldsamkeit gegen andere Meinungen politisiert haben, in RAF- Sympathisantenzirkeln, in denen es niemand lange aushält, der weniger autoritär strukturiert ist als dieses arme Stammpersonal der letzten Rotarmisten, die ihr Leben und das Sterben anderer nach dieser Schlicht-Definition bestimmen: „Es ist Krieg.“ Das sagte die Generation unserer Väter und Großväter auch, um das Unverstehbare zu erklären.
Auf der Gegenseite sind andere blind entschlossen, diese Gesellschaft in eine Anstalt zur Bekämpfung des Terrorismus zu verwandeln, statt das Einfachste wenigstens mal zu probieren und den Gefangenen die Möglichkeit zur gemeinsamen Diskussion zu geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen