: ZWISCHEN DEN RILLEN
■ Hörbilder, Collagen, Balladen - Drei Jazzplatten
Virtuoses Vocalese“ — das ist in zwei Worten das, was die niederländische Vokalistin Greetje Bijma singt. Aber was steckt alles hinter diesem Zwei-Worte-Kauderwelsch! „Vocalese“ ist der hübsche englische Ausdruck dafür, daß Silbengesang, Gesang von Lauten — und das kann weit mehr und ganz anderes als Scat sein — die Illusion einer selbständigen Sprache, eben des „vocalese“, schafft; sie bekommt für den Hörer um so eher Sinn, je mehr sie ihm durch Lautmalerei, Melodik und Improvisation die Möglichkeiten der „Übersetzung“ bietet. Greetje Bijma bietet sie wie spielerisch und spielend.
Auf ihrer adäquat betitelten Platte Tales of a Voice erzählt sie mit ihrer Stimme und ihrer Musik Geschichten, singt Hörbilder. Wie entstehen sie? Greetje Bijma stellt sich (im Stück Dyani) beispielsweise vor, wie „eine Frau bei Sonnenuntergang auf einem Esel durch die Wüste zieht“ oder „eine gewichtige Mama morgens auf den Markt geht, Hühner verkauft und mit ihren Freundinnen tratscht“ (Sunshine Mama). Ihr musikalischer Direktor und Saxophonist ihres Quintetts, André Laurillard, setzt die Stimmung in Kompositionen und Arrangements um. In diesem Rahmen improvisiert die Vokalakrobatin dann ihr „Vocalese“: Man „sieht“ den staubigen Weg zum Markt, hört die Hühner gackern und weiß, daß Sunshine Mama und ihre Freundinnen nicht nur Artigkeiten austauschen. Ganz so eindeutig klingen ihre Geschichten jedoch selten; sie läßt der Interpretation durchaus Freiheiten. Ihr musikalisches Idiom bleibt, bei allen folkloristischen Elementen, immer der Jazz.
Neun Geschichten erzählt sie in 55 Minuten. Man kann sich zunächst kaum satthören an ihnen; entdeckt beim Wiederhören neue Erzählstränge oder staunt einfach über ihre Virtuosität. Ein intellektuelles und ein Hörvergnügen, das aber, vielleicht gerade wegen des im Grunde distanzierten Entwicklungsprozesses und der grenzenlosen Verwandlungsfähigkeit der Sängerin, meist emotional kühl läßt.
Der Bassist Charlie Haden bildet seit 30 Jahren mit seinem vollen, warmen Ton und seinem unfehlbaren Gespür für Ruhe, Timing, Harmonien und Strukturen den Mittelpunkt vieler Aufnahmen der Musiker um Ornette Coleman. Mit Dream Keeper legt er (nach 1969 und 1983) die dritte Aufnahme seines in Kooperation mit Carla Bley zusammengestellten „Liberation Music Orchestra“ vor. Haden zeichnete sich immer als „politischer“ Musiker aus tiefem Mitempfinden und viel persönlichem Engagement aus: die erste „LMO“-Platte widmete er „einer Welt ohne Mord und Krieg, ohne Rassismus und Folter, ohne Armut und Ausbeutung“.
Die „LMO“-Arrangements von Carla Bley sind Collagen, die Revolutionslieder und Folklore aus Lateinamerika, dem spanischen Bürgerkrieg und Afrika integrieren. Doch was 1969 neu und durch das Einspielen von Originalaufnahmen aus den dreißiger Jahren verfremdet war, ist jetzt über weite Strecken glatt und gefällig. Bleys Partituren sind feierlich-statuarisch; Hymnisches und Sakrales prägt die Atmosphäre der Platte, auch wenn unter den getragenen Harmonien lateinamerikanische Rhythmen pochen. In dem von einem Gedicht von Langston Hughes inspirierten Titelstück wird dies noch durch einen Chor verstärkt. Aber Momente von Ironie und Intensität blitzen manchmal auf; von Ironie, wenn in der Hymn of the Anarchist Women Movement ausgerechnet Tuba-Bläser Joe Daley ein hektisches Solo bläst; von Intensität insbesondere, wenn Altsaxophonist Ken McIntyre die ANC-Hymne mit ungeheurer Kraft vom Sakralen weg zum Kämpferischen führt. McIntyres Solo gewinnt außerordentliche Dimensionen dadurch, daß er auch in den schnellsten, aufwühlendsten Linien von Ton zu Ton die Klangfarbe ändert: mal dumpf näselnd, mal aufheulend, von halbverschluckt zu weich und voll, dann wieder aufgerauht oder knochentrocken. Bei schnellen Ausflügen in den tiefen Lagen kommt er immer wieder auf seinen Ausgangspunkt zurück, bevor er die Grenzen des Tonumfangs des Alt-Sax befreiend nach oben sprengt. Er bläst nur 160 Sekunden; eine Gänsehaut bleibt.
Ein Zeitraum von 160 Sekunden — wieviel wäre das für die Pianistin und Sängerin Shirley Horn? „Ein Zeitraum (,space‘)“, sagt sie, „ist eine wertvolle Sache in der Musik. Zu viele Musiker brausen durch alles mit zu vielen Noten. Eine Ballade sollte eine Ballade bleiben. Es ist wichtig, die Aussage eines Songs zu verstehen und zu lernen, wie man die Story erzählen muß. Das dauert seine Zeit. Ich kann's nicht beschleunigen. Ich kann's wirklich nicht.“
Balladen sind mehr als nur die B-Seiten von Hits oder Verschnaufpausen bei Konzerten. Es sind Fallgruben für Sänger und Sängerinnen: Sie machen stimmliche oder konzeptionelle Schwächen gnadenlos hörbar, sie verführen zum Kitsch.
Shirley Horn, die seit 1954 von Leuten wie Miles Davis und Quincy Jones geschätzt und gefördert, dennoch nie wirklich bekannt wurde, singt ein ganzes Album voller Balladen; kleine Dramen, die sie so überzeugend inszeniert, daß man versucht ist zu fragen: Wie können sie je noch anders klingen? Sie singt sie artikuliert und ausdrucksvoll, auch manieriert; jede Silbe des Textes, jeden Bogen der Melodie ausgestaltend und auskostend. Sie singt sie mit einer Stimme voller Zwischentöne, voll winziger Modulationen, in der Tradition von Billie Holiday, Carmen McRae und Sarah Vaughan. Sie singt sie intim mit einer kleinen Rhythmusgruppe, spielt ein präzises, ruhiges, sparsames Piano, plaziert kleine Überraschungen geschmackvoll. Ihr Raffinement ist vom Blues durchtränkt. In einigen Stücken begleiten Musiker wie die Marsalis- Brüder oder Miles Davis.
Und sie nimmt sich Zeit. Songs bewegen sich nur noch unmerklich voran (Beautiful Love), von ganz, ganz leichten rhythmischen Kicks angestoßen. Sie verzögert Silben, Harmonien, Melodiebrücken und gibt so den Liedern Leben und Spannung. Rhythmisch straffer akzentuierte mittelschnelle Stücke wie Don't Let the Sun Catch You Cryin' erscheinen im Kontext der Platte schon als „up tempo“-Nummern. In You Won't Forget Me (mit Miles Davis auf der gestopften Trompete: rauher und noch ökonomischer als zu Zeiten seines klassischen Quintetts) reibt sich Horns bis zum Extrem verlangsamte Melodie- und Rhythmusauffassung mit dem nervig die ablaufende Zeit „tickenden“ Schlagzeug.
Shirley Horn schöpft für sich und uns einen ganz eigenen Zeit-Raum. Sie verlangsamt auch beim Hörer das Zeit- und Rhythmusgefühl. Der Puls des Lebens schlägt langsamer und intensiver, ganz natürlich, ganz selbstverständlich. Nicht auszudenken, was geschähe, sänge sie My Heart Stood Still
Greetje Bijma: Tales of a Voice,
enja/tiptoe 888808-2
Charlie Haden: Dream Keeper,
Polydor 847876-2
Shirley Horn: You Won't Forget Me,
Verve 847482-2
HÖRBILDER,COLLAGEN,BALLADEN—DREIJAZZPLATTEN
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