: Harry Tisch: Unschuldig schuldig
■ DDR-Gewerkschaftschef bricht erstmals Schweigen vor Gericht
Berlin (taz) — Der Anzug grau, das Hemd blau, das blasse, breitflächige Gesicht über den Tisch gebeugt — so verlas er seine Erklärung: Harry Tisch, ehemals Chef der DDR-Einheitsgewerkschaft, jetzt Angeklagter vor dem Berliner Landgericht. „Für die 40jährige Entwicklung in der DDR fühle ich mich politisch mitverantwortlich“, begann er. Gestern, knapp drei Monate nach Prozeßbeginn, äußerte sich Tisch zum ersten Mal zu dem, was man ihm vorwirft: daß er den FDGB seine Ferien bezahlen ließ, daß er den DDR-Wirtschaftsboß Mittag an diesem Privileg teilhaben ließ, und vor allem, daß er die FDJ mit 100 Millionen aus der Gewerkschaftskasse beglückte. „Daß ich als Vorsitzender gleichzeitig Gast des FDGB war, war nicht rechtens“, gab er zu. „Aber damals war es mir nicht bewußt“, schwächte er gleich wieder ab und machte das Gericht darauf aufmerksam, daß ihm eine Schuld in dieser Sache wohl schwer nachzuweisen wäre. Und der schwerkranke Günter Mittag hätte als „Person des öffentlichen Lebens“ ganz „legitim“ Anrecht auf eine bezahlte Kur gehabt.
Es hätte auch nichts mit Veruntreuung, „persönlichen Ambitionen oder Amtsanmaßung“ zu tun, daß er der FDJ 100 Millionen überweisen ließ. Damit sei er einer Bitte Honeckers nachgekommen. Und finanzielle Hilfe für andere Organisationen wäre nichts Ungewöhnliches gewesen: „Diese Vorwürfe sind absurd, ich halte mich für nicht schuldig.“ Die Richter der 19. Großen Strafkammer versuchten, den Ex-Gewerkschafter auf Widersprüche zwischen seiner jetzigen Erklärung und seinen früheren Aussagen festzunageln. Deutlich wurde dabei nur eines: daß sich Harry Tisch — dem der psychologische Gutachter überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt hatte — fast entspannt zurücklehnen konnte, um das Gericht über die Verhältnisse in der ehemaligen DDR aufzuklären. bam
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen