Läßt Gorbatschow Taten folgen?

Unsichere Reaktionen der Öffentlichkeit nach der „Gemeinsamen Erklärung“ Gorbatschows und der Republikchefs/ Streikende sind nicht beeindruckt/ Kann man Versprechungen noch glauben?  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Ich sehe, daß 70 Prozent der Redner mich kritisieren, noch dazu im Namen des Volkes. Dann trete ich eben zurück.“ Diesen Zornausbruch Gorbatschows überbrachte Ex-Schriftstellerverband-Chef Karpow Donnerstag nachmittag den Journalisten, die vor dem verschlossenen Sitzungssaal des ZKs auf Nachrichtenbrosamen warteten. Kurze Zeit später sickerte durch, das ZK habe den Rücktritt abgelehnt, und der Zornige sei besänftigt.

Die Attacken in der Plenarsitzung konnten nichts daran ändern, daß nach dem Mehrheitsentscheid der Sojus-Gruppe und der Stellungnahme „gemäßigt-konservativer“ Gruppen feststand: Ein Mißtrauensantrag gegen den Generalsekretär hat keine Chance. Sind nun alle Zweifel beseitigt?

Nach der „Gemeinsamen Erklärung“ überschwemmt das total überraschte Land eher eine Welle der Unsicherheit. Sowjetbürger aller Couleur sind sich diesmal in einem Punkt einig: Die Rückendeckung des populären Jelzin hat Gorbatschow für das gegenwärtige Plenum des ZKs der KPdSU gestärkt. Viele aber fragen aus der Erfahrung der letzten Monate heraus: Kann Gorbatschow überhaupt noch Versprechen halten? Der einträchtige Appell der beiden Kontrahenten, die Streiks im ganzen Lande einzustellen, ist von den Streikenden bisher nicht gehört worden. Bei der Moskauer ständigen Vertretung der russischen Bergleute reißen die Telegramme und Telefonanrufe nicht ab. Die Frage klingt durch: „Hat man uns etwa verraten?“

Die Presse schweigt. Allein die tapfere 'Komsomolskaja Prawda‘ begrüßte in einem Kommentar die plötzliche Wende als vielleicht letzte Chance, den Knoten der sozialen Widersprüche aufzudröseln und Bewegung in die Fronten zu bringen. Gorbatschows Rede vor dem ZK wirkt dagegen konfrontativ.

Da werden die Anhänger der Bewegung „Demokratisches Rußland“ mit den Neostalinisten etikettiert, als wollten sie das Land geradewegs in die Anarchie zwingen. Kein Wort darüber, daß gerade die Bürgerbewegungen den Konföderationsrat stärken wollen, die interparlamentarische Konferenz der bisherigen Sowjetrepubliken ins Leben gerufen haben und den berühmten „runden Tisch“ vorbereiten.

Unbeeindruckt von Gorbatschows Ausfällen erklärte der Vorsitzende des überregionalen Koordinationsrates der Streikkomitees Rußlands, Anatolij Malychin, unserer Moskauer Redaktion: „An der Forderung nach dem Rücktritt der Regierung halten wir fest. Trotzdem sind wir zu einem Dialog bereit, denn wir wissen, daß ein Machtwechsel im Lande keine leichte Sache ist und daß, wenn er friedlich verlaufen soll, dafür Strukturen und Mechanismen geschaffen werden müssen. Entsprechende Vorschläge aber sind aus der gemeinsamen Erklärung Jelzins und Gorbatschows nicht ersichtlich. Besonders vorsichtig stimmt uns, daß da von einem „Ausnahmeregime“ in den Basisindustrien die Rede ist. Was das heißen soll, kann man nur raten: schuften vor den Mündungen von Maschinengewehren oder irgendeine neue Arbeitsorganisation?“

Gorbatschow betonte in seiner Rede, gewiß zu Recht, die Wichtigkeit, sich an Recht und Verfassung zu halten — dies in einer Zeit, in der die Gewalttätigkeit in der Gesellschaft auszuufern droht. Die Art, wie er die Legalität des Status quo hervorhebt, läßt allerdings wenig Raum für die Hoffnung der 'Komsomolskaja Prawda‘ auf eine baldige Neuwahl des Kongresses der Volksdeputierten, des Obersten Sowjet und — „möglicherweise“ — des Präsidenten der UdSSR.

Anlaß für solche Hoffnungen ist ein Passus des „Gemeinsamen Dokumentes“, demzufolge in spätestens einem halben Jahr ein neuer Unionsvertrag, einschließlich der Grundlagen einer neuen Verfassung, unterschrieben werden soll. Auch wird hier erstmals das Recht von sechs Staaten anerkannt, der künftigen Union fernzubleiben.

Die Praxis am Tag nach der Veröffentlichung der „Erklärung“ ließ allerdings wenig vom „Geist“ des Dokuments spüren. Da prangte in den zentralen Zeitungen ein Ukas des UdSSR-Präsidenten, der einige soeben vom armenischen Obersten Sowjet erlassene Gesetze null und nichtig machen soll. Und — nach einer Auskunft des stellvertretenden UdSSR-Ministerpräsidenten Schtscherbakow — auf dem ZK-Plenum forderte der erste Sekretär der Belorussischen SSR, Malofejew, in seiner Heimat den Ausnahmezustand zu verhängen.