KOMMENTARE: Erheben sich die Grünen vom Lager?
■ Grundsätzliche Fragen an einen Rekonvaleszenten vor dem Parteitag in Neumünster
Die Grünen-Partei ist ein Rekonvaleszent. Es droht ihr, nachdem die ersten Anzeichen der Besserung unübersehbar sind, daß sie sich zu früh vom Lager erhebt und in die alte Krisensituation zurückfällt. Da die Grünen nach den Landtagswahlen in Hessen und Rheinland-Pfalz wieder wählbar sind, könnten sie durchaus noch einmal den guten alten Realo-Fundi-Konflikt, eine der uninteressantesten politischen Leichen, mesmerisieren. Tot bleibt er dennoch, die Öffentlichkeit würde dann auf Neumünster mit der schlimmsten Waffe reagieren — mit Desinteresse oder Mitleid.
Die Fragen, die zu stellen sind, sind grundsätzlicher, aber auch komplizierter. Vor allem ist keine formelhafte, ideologische Antwort mehr möglich. Wenn die Partei sich von ihrer ideologischen Dauerblockade verabschiedet — dann erst wird der Schaden sichtbar werden, den die Grünen genommen haben in all den Jahren des Lavierens zwischen Bewegungen und Parteien. Und wenn die Grünen nach ihrer Realo-Fundi-Sektiererei nun aus den ideologischen Grüften auftauchen, stellt sich die Frage: Ist überhaupt noch Lust auf Debatten zu erwarten? Wird nicht Apathie herrschen und Rückfall ins Bonner Parteienwesen drohen? Der Charme des Neuen ist bei den Grünen doch unwiderruflich dahin. Es ist klar, daß sich diese Fragen nicht sofort beantworten lassen. Ebenso klar ist, daß sie sofort gestellt werden. Mit den ersten Erfolgen in Hessen und Rheinland-Pfalz droht dem Rekonvaleszenten die Rolle einer grünen FDP. Der Meister der Rekonvaleszenz, Joschka Fischer, sieht die Grünen als eine Art institutionalisiertes Druckmittel, um der SPD zu ihren eigenen Ansprüchen zu verhelfen. Aber reicht das, um die Leute zum Neuanfang zu mobilisieren? Wo ist die Idee, daß Ökologie nicht Umweltschutz, sondern Demokratisierung der Gesellschaft bedeutet? Können die Grünen, nachdem sie die Basisdemokratie zur Basisbürokratie haben verkommen lassen, noch demokratisch innovativ sein?
Die Schlüsselfrage ist der Osten, das Verhältnis zur ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung, zur osteuropäischen Demokratie. Das Defizit an Auseinandersetzung ist bei den Grünen doch mindestens genauso groß wie bei den Altparteien. Schon jetzt setzt sich das Wahlbündnis 90 defensiv als eine Art Betroffenenorganisation-Ost durch. Werden die Grünen sich von ihrer alten Lamentela über die deutsche Vereinigung befreien? Werden sie aufhören, die Ostdeutschen mit ihrer sozialarbeiterischen Behutsamkeit zu diskriminieren? Werden sie den inzwischen schwach gewordenen Anstoß der Bürgerrechtsbewegung annehmen und das Links- Rechts-Schema ad acta legen, nach vorne denken, dorthin, wo Ideen gebraucht werden?
Gelingt ihnen das, dann könnten sie begreifen, daß im Osten die größte Herausforderung zur Gesellschaftsreform wartet, die dieses Jahrhundert bietet. Aber das ist wahrscheinlich zuviel verlangt für einen Rekonvaleszenten. Klaus Hartung
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