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Hektische Suche nach hochgiftigem „Kieselrot“

800.000 Tonnen extrem dioxinverseuchter Schlacke liegen auf Spiel- und Sportplätzen überall in der Bundesrepublik  ■ Von Walter Jakobs

Düsseldorf (taz) — Noch vor wenigen Tagen spielten auf der Schlackehalde Kinder, nutzten Motocrossfahrer den rotbraunen Hügel als Übungsstrecke. Jetzt warnen am Rande des Geländes frisch aufgestellte Schilder: „Betreten verboten. Lebensgefahr“. Die verbotene Zone gehört zum Komplex der ehemaligen Marsberger Kupferhütte, direkt zwischen den beiden Stadtteilen Nieder- und Obermarsberg gelegen. Hier, am nordöstlichen Rande des Sauerlandes, lagert tonnenweise, was bei der 1945 eingestellten Kupferverhüttung als Restmaterial übriggeblieben ist. Seit dem 16. April, als aus Bremen die Nachricht von extrem dioxinverseuchten Sportplätzen kam, ist es aus mit der Idylle in Marsberg.

Als Verursacher hatte die Bremer Umweltbehörde die Kupferschlacke namens „Kieselrot“ ausgemacht — Herkunftsort Marsberg. Mehr als 800.000 Tonnen — manche befürchten sogar fünf Millionen — Kieselrot sollen nicht nur in der alten Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren beim Bau von Sport- und Spielplätzen, Parkanlagen und Wanderwegen eingesetzt worden sein. Nach neuesten Meldungen des 'Spiegel‘ wurde der giftige Baustoff auch nach Frankreich, Belgien, in die Niederlande und nach Dänemark geliefert. Dies geben frühere Angestellte der Vermarktungsfirma an. Auch solle der Baustoff mit dem Supergift nicht nur in den 50er und 60er Jahren ausgeliefert worden sein. Spediteure und Bundesbahnbedienstete aus dem Sauerland geben an, so das Magazin, daß er bis 1978 vertrieben wurde. Da die Tiefbaufirma, die die Schlacke mit behördlicher Genehmigung vermarktete, jedoch längst nicht mehr existiert, gestaltet sich die Suche mühsam.

Erste Meßergebnisse in Marsberg bestätigten die alarmierenden Bremer Werte. Proben aus dem Schlackeberg haben eine Dioxinbelastung von 20.000 bis 70.000 Nanogramm pro Kilogramm Kieselrot erbracht. Werte, so „unvorstellbar hoch“, wie der nordrhein-westfälische Umweltminister Klaus Matthiesen am Dienstag entsetzt feststellte, daß die Konsequenzen derzeit überhaupt noch nicht absehbar sind. Am heutigen Montag wird in Bonn eine Abteilungsleiterkonferenz der Umweltministerien versuchen, ein einheitliches Vorgehen zu verabreden.

Ein Blick auf die vom Bundesumwelt- und Bundesgesundheitsamt gemeinsam herausgegebenen Richtwerte unterstreicht den dringlichen Handlungsbedarf. Schon bei einer Dioxinbelastung von 100 Nanogramm (Millardstel Gramm) empfehlen die beiden Behörden den „Bodenaustausch auf Kinderspielplätzen, Kindergärten und evtl. Schulhöfen“. Ab 1.000 Nanogramm soll danach die Erde auch in Siedlungsgebieten ausgetauscht werden. Bei Böden mit über 10.000 Nanogramm Belastung lautet der Vorschlag: „Bodenaustausch unabhängig v. Standort. Entsorgung des belasteten Erdreiches als Sonderabfall.“ Doch wohin mit der roten Asche von Hunderten von Fußball- und Bolzplätzen, wenn sie ähnlich hohe Belastungen aufweist? Das weiß kein Mensch. Neue, gravierende Dioxinfunde sind wahrscheinlich, denn Kupferhütten gab es nicht nur in Marsberg. Am Freitag waren im gesamten Bundesgebiet und in den Niederlanden etwa 220 Orte bekannt, in denen Kieselrot verbaut worden ist. Insgesamt, so teilte das Düsseldorfer Umweltministerium mit, sind bisher 225 Sportplätze, 51 Parkwege, 19 Spielplätze und zehn Schulhöfe von Kiel bis München ermittelt worden.

In Marsberg selbst wird das Blut von etwa hundert Personen in der nächsten Woche auf das Seveso-Gift Dioxin hin untersucht. Mit Messungen im Umfeld der ehemaligen Kupferhütte will man den Grad der Verseuchung der Wiesen und Kleingärten feststellen. Einschneidene Konsequenzen für die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Landwirtschaft sind nicht ausgeschlossen. Als Richtwert, bei dem „eine uneingeschränkte landwirtschaftliche Nutzung“ noch hinnehmbar ist, nennt das Umweltbundesamt fünf Nanogramm pro Kilo Boden.

Die Reaktion der Anwohner schwankt zwischen Entsetzen und Fatalismus. Während der 48jährige Hubert Büne, der direkt an der Halde wohnt, von „einem hochgespielten Skandal“ glaubt reden zu können, sind andere deprimiert und ratlos, sorgen sich viele um ihre Gesundheit. Die lange unerklärlichen Kopfschmerzen erscheinen einem Anwohner in einem völlig neuen Licht. Er will nun untersuchen lassen, „ob die Krankheiten, die ich jetzt habe, mit der Sache da oben zu tun haben“. Andere erinnern sich daran, daß auf der Halde erlittene Schürfwunden wesentlich langsamer verheilten als andere.

Geschuldet ist der hochgiftige Schlackenabfall dem weit zurückreichenden Kupferbergbau in Marsberg, der 1930 wegen der geringen Ausbeutungsquote zu Ende ging. Der Hunger der Nazis nach kriegswichtigem Kupfer ließ sie die Produktion 1937 wieder anfahren. Die Kupferhütte gehörte danach zu den Hermann-Göring-Werken, die hier bis Kriegsende produzierten. Extreme Umweltbelastungen waren schon damals bekannt. In einer Chronik des nahegelegenen Erlinghausen von 1937 heißt es: „Im Abzuggebiet der Gase der Hütte verendet das Vieh.“ Der 82jährige Karl Becker, einst als Elektriker auf der Hütte tätig, erinnert sich wie das Problem „gelöst“ wurde: 1940 baute man einen Schornstein, „um den Mist weiter zu verteilen“.

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