Somalia zwischen Spaghetti und Scharia

Drei Monate nach dem Sturz des Diktators Siad Barre ist Somalia noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Die Übergangsregierung in Mogadischu festigt sich und sucht nun nach einer starken Hand, um das Land zusammenzuhalten. Doch für die Bevölkerung ist der Frieden noch weit.  ■ VON BETTINA GAUS

Drei Monate nach der zerstörerischen Schlacht um Mogadischu haben einige Restaurants in Somalias Hauptstadt wieder geöffnet. In lauschigen grünen Oasen werden Spaghetti und Roastbeef serviert. Der Markt ist wieder voller Leben. Frauen bieten Tomaten, Reis und Kartoffeln feil. Einige der Häuser, in die schwere Artilleriegeschosse metergroße Löcher gerissen hatten, sind bereits repariert, an anderen wird gearbeitet. Es ist auch wieder Benzin zu haben — die neue Regierung hat Ölvorräte gekauft, die für etwa sechs Wochen reichen dürften. Das Hotel Towfiq, während des Bürgerkrieges Hauptquartier der siegreichen Widerstandsbewegung USC (Vereinigter Somalischer Kongreß), die Ende Januar nach der Flucht des gestürzten Präsidenten Siad Barre in Mogadischu die Macht übernahm, bietet Komfort wie zu Friedenszeiten: saubere Zimmer, fließendes Wasser, Elektrizität aus dem Generator. Nur das Telefon ist eine sinnlose Dekoration — seit Ende letzten Jahres ist die Leitung, wie auch alle anderen in der Stadt, tot.

Und auch sonst trügt das versöhnliche Bild: „Die meisten Waren, die jetzt verkauft werden, stammen noch aus alten Lagern oder sind geplünderte Güter“, sagt der Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. „Aber die Vorräte gehen rapide zur Neige, und es kommt derzeit nur wenig neue Nahrung in die Stadt.“ Das bestätigt auch Willi Huber, Leiter des SOS-Kinderdorfes, der zu den wenigen Ausländern gehört, die die Arbeit in Mogadischu auch nach der Flucht des Diktators Siad Barre nicht wegen der chaotischen Verhältnisse eingestellt haben. Zu dem Gelände der SOS-Organisation gehört eine Kinderklinik: „Derzeit kommen jeden Tag etwa 400 Kinder als ambulante Patienten; noch vor zwei Monaten waren es vielleicht 50“, erklärt Huber. Viele der Kinder seien infolge dramatischer Unterernährung erkrankt: „Hier haben wir eine städtische Hungersnot, die sich von Tag zu Tag verschlimmert.“ Die meisten Familien können sich die Waren auf dem Markt nicht leisten: „Da das ganze Geschäftsleben lahmliegt, hat kaum jemand eine Chance, Geld zu verdienen“, meint der Exportkaufmann Fousi Shador.

Das Rote Kreuz verteilt inzwischen regelmäßig Hilfsgüter, andere Organisationen folgen — aber nur zögernd. „Wir haben all unsere Autos verloren, unsere Gebäude sind geplündert. Es dauert eine Zeitlang, bis wir hier wieder richtig arbeiten können“, erklärt Charles Laskey von Care, der jetzt zur Erkundung der Lage nach Mogadischu gereist ist. Und auch politische Gründe verschleppen die Hilfsaktionen: Bislang hat keine Botschaft ihre demolierten Türen wieder geöffnet. Das Ausland will erst die Bildung einer landesweit anerkannten Regierung abwarten und dringt auf eine verbesserte Sicherheitslage in der Hauptstadt.

Hier hat die Regierung Erfolge aufzuweisen. Mittlerweile sind es wieder die alten, respektierten Polizeibeamten und nicht mehr USC- Truppen, die strategisch wichtige Punkte wie den Flughafen bewachen. „Wir haben begonnen, Waffen von der Bevölkerung zum handelsüblichen Preis zurückzukaufen“, sagt Mohammed Farah Siad Hawiye, im USC-Zentralkomitee zuständig für Sicherheitsfragen. „In den nächsten zwei Wochen wollen wir ein Gesetz verabschieden, das es Zivilisten verbietet, Waffen auf der Straße zu tragen. Dann kann die Polizei die Gewehre einsammeln.“ So schnell sind die Probleme allerdings nicht aus der Welt zu schaffen. Während des Bürgerkrieges kamen viele Nomaden als Kämpfer des USC in die Stadt. Mittlerweile sind sie immer noch hier und beginnen, der Bevölkerung auf die Nerven zu gehen: „Ich habe mit denen nichts gemeinsam“, meint ein Politologe. „Sie haben ihren Job getan, jetzt sollen sie wieder gehen. Es ist Zeit.“

Die vielfältigen Konflikte und Probleme in Mogadischu haben einer Gruppierung unerwarteten Auftrieb gegeben: radikalen islamischen Fundamentalisten. Eine Reihe religiöser Führer kämpft für die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, in Somalia — und löst damit vor allem bei Frauen und jüngeren Männern erbitterten Protest aus: „Wenn wir anfangen, Dieben die Hand abzuhacken, sind wir nach all den Plünderungen ein Volk von Behinderten“, spottet Fousi Shador. Und Faduma Ahmed Alim, ehemals Vizerektorin der Pädagogischen Universitätsfakultät, ergänzt: „Ich liebe mein Land und wollte es nie verlassen. Aber wenn hier Scharia eingeführt wird, sitze ich im nächsten Flugzeug.“

Doch die Fundamentalisten sind durchaus nicht ohne Anhänger: Ein prominenter USC-Vertreter stellte sich öffentlich auf ihre Seite. Und erst vor wenigen Tagen kam es zu schweren Prügeleien in der Stadt, als Anhänger der Scharia ein Paar, das öffentlich Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte, auspeitschen wollten. Die „Strafe“ wurde verhindert — aber der Konflikt ist nicht beigelegt. Präsident Ali Mahdi Mohammed hält sich bedeckt: „Es könnte sein, das der USC die Einführung der Scharia vorschlägt, aber dies ist in jedem Falle eine Frage, die von allen Gruppen und allen Somalis gemeinsam entschieden werden muß.“ Neben politischen Kämpfen und Clanfehden droht Somalia nun auch die religiöse Zwietracht.

Am Nachmittag des 23. April scheint es, als sei in Mogadischu erneut der Bürgerkrieg ausgebrochen. Maschinengewehrsalven donnern durch die Luft, aus allen Richtungen ertönen Schüsse — aber niemand geht in Deckung. Die Männer und Frauen auf den Straßen lachen. Kinder laufen in Gruppen, Zweige schwenkend, durch die Stadt. Sie skandieren im Chor: „Wer hat den Sieg errungen? USC, USC!“ Und: „Die Feinde sind besiegt — schlagt sie ganz, schlagt sie ganz!“ Es wird nicht gekämpft in Mogadischu, sondern gefeiert. Vor wenigen Minuten ist im Radio bekanntgegeben worden, daß die südsomalische Hafenstadt Kisimaju von Kämpfern des USC (Vereinigter Somalischer Kongreß) erobert worden ist.

„Wer hat den Sieg errungen? USC, USC!“

Das ist ein wichtiger Erfolg für die USC-Übergangsregierung, die noch immer nicht international anerkannt ist. Noch immer streiten rivalisierende Gruppen um die Macht. Es ist eine seltsame Allianz, die sich gegen die neue Regierung in der Hauptstadt verbündet hat: Anhänger von Barre kämpfen gemeinsam mit seinen ehemaligen Feinden, die dem Diktator noch vor kurzem aktiven Widerstand geleistet hatten und sich öffentlich auch weiterhin zu seinen Gegnern erklären, aber um beinahe jeden Preis eine beherrschende Stellung des USC im Lande verhindern wollen. „Die Gegner des USC sind untereinander heillos zerstritten“, meint Mario Sica, bis zu Barres Sturz Botschafter der ehemaligen Kolonialmacht Italien. Dennoch hatte es noch Anfang April so ausgesehen, als würde sich das Blatt noch einmal wenden. Damals waren die USC- Gegner bis auf wenige Kilometer auf Mogadischu vorgerückt. Aber es gelang ihm, die Offensive abzuwehren und die feindlichen Truppen Kilometer um Kilometer auf der Straße nach Kisimaju in wochenlangen Kämpfen zurückzudrängen.

Das komplizierte Clansystem in Somalia fordert seinen Tribut. Groß ist die Angst, daß der Clan der Hawiye, zu dem die meisten USC-Kämpfer gehören, die anderen Gruppierungen des Landes unterdrücken wird. Vor allem die Darod, die im Süden Somalias leben und deren Widerstandsbewegung SPM (Somalische Patriotische Bewegung) noch bis vor wenigen Monaten Seite an Seite mit dem USC gegen Barre gefochten hat, erheben jetzt schwere Anschuldigungen gegen die neuen Machthaber in Mogadischu: Frauen und Kinder seien vom USC massakriert worden, kein Darod sei mehr seines Lebens sicher. Die Regierung in der Hauptstadt bestreitet die Vorwürfe. Aber die wenigen Darod, die noch in der Hauptstadt leben, haben Angst: „Mein Mann ist Darod“, erzählt eine Hawiyefrau, „ich werde ihn schützen. Aber er traut sich nicht mehr aus dem Haus.“ Ein junger USC-Kämpfer klagt: „Mein bester Freund aus Schulzeiten ist ein Darod. Er bedeutet mir mehr als hundert Hawiye. Aber jetzt reißt die Politik uns auseinander.“

Spaltung des Landes vorerst abgewendet

Der Kampf um die Macht in Somalia ist noch längst nicht entschieden. Dieser 23. April ist ein wichtiger Tag für den USC — nicht nur wegen der Eroberung Kisimajus, sondern auch, weil an diesem Tag endlich eine Einigung zwischen den Machthabern in Mogadischu und einer Delegation der SNM (Somalische Nationale Bewegung), die den Norden des Landes kontrolliert, erzielt werden konnte.

Im Garten des Hauses von Muhammed Farah Siad Hawiye sitzen an diesem Tag etwa ein Dutzend Männer im Kreis unter Palmen. Das Treffen von USC und SNM hätte schon am Nachmittag beendet sein sollen, aber längst ist die Nacht hereingebrochen. Die Unterhaltung wird leise geführt, kein Ausruf ist zu vernehmen, kaum je wird auch nur eine Stimme laut erhoben. Gegen neun Uhr abends ist die Begegnung zu Ende. Die Männer stehen auf, ihre Gesichter sind gelöst, es wird gelacht. Der stellvertretende SNM- Vorsitzende Osman Jama leitete die Delegation seiner Organisation. „Wir haben uns geeinigt, uns gemeinsam darum zu bemühen, daß Recht und Ordnung wiederhergestellt werden und Frieden in Somalia eintritt.“ Der scheinbar so banale Satz hat eine weitreichende Bedeutung: Nach Barres Sturz hatte es die SNM dem USC sehr verübelt, daß dieser sofort einen neuen Präsidenten vereidigt hatte, ohne die nördliche Rebellenorganisation zu konsultieren, die bereits seit Jahren einen verlustreichen Kampf gegen das Regime in Mogadischu geführt hatte. USC-Vertreter verteidigten sich mit der Erklärung, ein Machtvakuum in der Hauptstadt hätte vermieden werden müssen. Auch sei das neue Kabinett nur eine Übergangsregierung und sofort zum Rücktritt bereit, wenn eine nationale Konferenz aller Gruppierungen Beschlüsse über die Zukunft Somalias fasse. Aber diese Erklärung genügte der SNM nicht. Die nationale Konferenz ist bis heute nicht zustandegekommen. Beobachter hielten sogar für möglich, daß Somalia geteilt werden würde — in den ehemals britisch kolonisierten Norden mit einer SNM-Regierung und den ehemals italienisch kolonisierten Süden unter der Herrschaft des USC. „Wir haben uns darauf geeinigt, ein Komitee zu berufen, das darüber beschließen wird, wie eine gemeinsame Regierung gebildet werden kann“, sagt Osman Jama jetzt. „Wenn der neue Präsident ernannt ist, wird die Übergangsregierung in der Hauptstadt zurücktreten.“ Ist das jetzt der Durchbruch? Das bleibt abzuwarten. Auch in den Reihen der SNM toben Machtkämpfe.

Immerhin: Der erste Schritt ist getan. Und die Übergangsregierung gibt sich optimistisch: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Ausgang unseres Treffens mit der SNM“, sagt Präsident Ali Mahdi Muhammad. „Und die Eroberung Kisimajus macht mich sehr glücklich. Wo immer sich jetzt noch Anhänger von Siad Barre aufhalten, wir werden sie aufspüren.“

Ein Kellner mit Kalaschnikoff

Aus Kisimaju sind Barres Soldaten ebenso wie alle anderen Gegner des USC und viele Zivilisten in panischer Hast geflohen. Am Hafen und auf der Straße zum Flughafen liegen Koffer, Kleider, Bücher und Papiere wild durcheinander — Überreste des planlosen Abzugs. Während Sprecher verschiedener Organisationen im Ausland noch tagelang ihre Niederlage leugnen, ist die Hafenstadt fest in der Hand des USC. Dessen Kämpfer trafen beim Einmarsch nicht einmal auf Widerstand. Schon zwei Tage nach der Eroberung ist die Lage stabil genug, um zwei Kabinettsminister aus Mogadischu einfliegen zu lassen, sie auch uns, zwei ausländische Journalisten, mit an Bord nehmen. Auch eine Maschine des Roten Kreuzes landet in Kisimaju. Sie wird sehnsüchtig erwartet. Die Bevölkerung braucht dringend Hilfe. Es gibt kein sauberes Wasser in der Stadt, kaum Medikamente, wenig zu essen. Viele Einwohner sind geflohen, während andererseits Tausende von Landbewohnern nach Kisimaju gekommen sind, in der Hoffnung, dort Sicherheit zu finden. Sie haben Hunger — aber es ist ihnen keine Gewalt angetan worden. Niemand in Kisimaju beschuldigt den USC irgendwelcher Übergriffe. Die schwerbewaffneten Kämpfer, von denen viele kaum älter als 17 Jahre sind, haben offenbar nicht einmal geplündert. „Das ist das Verdienst von General Aydeed, der das Oberkommando hatte“, meint ein Beobachter. „Er versteht es, die Truppe zu disziplinieren. Aber von ihm droht eine andere Gefahr: Er hat politischen Ehrgeiz und Streit mit der USC-Führung in Mogadischu. Viele hier haben Angst, daß er putschen will.“ Der General leugnet beim Gespräch in der ehemaligen Präsidentenresidenz der Stadt mit steinernem Gesicht jeglichen Konflikt: „Alle Meinungsverschiedenheiten mit dem USC sind beigelegt.“ Wohl kaum — die Zeichen sind nur allzu deutlich: Mohammed Farah Aydeed fuhr nicht zum Flughafen, um die beiden neu angekommenen Kabinettsmitglieder zu empfangen. Er tritt nicht einmal auf die Straße hinaus, um sie zu begrüßen. Einer der Minister lehnt daraufhin jede Begegnung mit dem General ab. Droht hier eine neue Front in diesem zersplitterten Krieg? Wird in Kisimaju am Ende doch noch gekämpft? Die Stadt klirrt vor Waffen. Kein Mann läuft ohne Gewehr herum. Sogar derjenige, der am Abend das Essen für die Ehrengäste aus Mogadischu aufträgt, schultert beim Kellnern lässig die Kalaschnikoff. Aber die Bevölkerung hier kann jetzt zumindest auf Frieden hoffen. Ihre Häuser sind nicht zerstört, und das Rote Kreuz hat begonnen, Hilfsgüter an diejenigen zu verteilen, deren Not am größten ist.

Draußen auf dem Lande jedoch ist die Lage verzweifelt. Ganze Dörfer sind völlig zerstört. Ein großer Teil der Ernte ist durch die Kämpfe vernichtet. Das schwerste Gefecht tobte drei Tage lang etwa 50 Kilometer von der Hauptstadt entfernt an der Arare- Brücke. In den Gräben und auf den Feldern liegen hier noch immer zahlreiche getötete Soldaten — ein Fraß der Geier. Ein junger Bauer zeigt seine Wunden an Brust und Arm: „Barres Soldaten haben uns gefoltert, damit wir ihnen unsere unterirdischen Vorratskammern zeigen“, berichtet er. „Sie haben alles mitgenommen.“ Auch andernorts erzählt die Bevölkerung von Greueltaten. „Drei Monate haben wir uns im Busch versteckt“, sagt ein Bauer im Dorf Bulu Gudud unweit von Kisimaju, Schauplatz des letzten Gefechts vor der Eroberung der Hafenstadt. „Barres Soldaten haben Frauen vergewaltigt und Männer umgebracht, wenn sie welche entdeckten. Wir konnten unsere Felder nicht bestellen. Die Ernte ist vernichtet. Wir haben nichts mehr zu essen.“

Und der Krieg geht weiter. Die Jagd auf Siad Barre, der seit Wochen im Grenzgebiet zu Kenia vermutet wird, ist noch nicht vorbei. „Wir werden keine Mühe scheuen, um ihn gefangenzunehmen“, sagt USC-Colonel Omar Alaso, „er wird uns nicht entkommen.“