Im Irak beginnt jetzt das Sterben

■ Was es heißt, „ein Land ins Mittelalter zu bomben“: Hilfsorganisationen befürchten im Irak Zehntausende von Toten, weil das Wasser verseucht, die Ernte gefährdet und das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist

Wie sieht eine zerbombte Stadt aus? Nein, nicht Dresden sollte einem von jetzt an in den Sinn kommen, sondern Bagdad, sagen die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die gerade aus dem Irak zurückgekehrt sind. Zwar stehen die Häuser noch und nur wenige Menschen sind durch Bombenexplosionen oder Feuer ums Leben gekommen: Aber jetzt, da der Krieg vorüber ist, beginnt das Sterben.

Das Internationale Rote Kreuz, das in seinen Presseerklärungen gewöhnlich größtmögliches Understatement pflegt, warnte letzte Woche vor den Anfängen einer „Gesundheitskatastrophe von ungeahntem Ausmaß“. Nicht von den 1,5 Millionen kurdischen Flüchtlingen war die Rede, sondern von den anderen 14 Millionen Irakern.

Die größten Gefahren für die Zivilbevölkerung sind das verseuchte Wasser und die fehlenden sanitären Anlagen. Die gesamte Stromversorgung des Landes wurde durch die Bomben der Alliierten restlos zerstört. Folglich stehen die Anlagen zur Wasseraufbereitung still, die Pumpen sind leer. Abwasser können nicht abgeleitet werden. Der Inhalt verstopfter Pumpen läuft in Kanäle und Flüsse aus, aus denen die Menschen nun ihr Trinkwasser holen. Die unmittelbare Folge sind schwere Durchfallerkrankungen, an denen vor allem die Kinder „innerhalb weniger Stunden“ sterben. Andere Epidemien sind längst ausgebrochen, doch es ist unmöglich, einen Überblick über die Zahl der Kranken und der Sterbenden zu bekommen.

Dr. Jack H. Geiger, Präsident der „Physicians for Human Rights“, erklärte nach seiner Rückkehr aus dem Irak, er rechne, daß die Zahl der Toten bald in die Zehntausende geht. In den Krankenhäusern, einst Bestandteil eines ausgezeichneten Gesundheitssystem im Irak, gibt es keine Antibiotika, keine Narkosemittel, keine Geräte für Transfusionen. Dr. Geiger berichtete von Abteilungen für Brandopfer, in denen die Ärzte nichts weiter tun können als mit einem Handtuch die Fliegen abzuhalten. Medikamente können eingeführt werden, aber Strom gibt es in den Hospitälern nur für wenige Stunden am Tag, Wasser nur bis zum ersten Stockwerk, sanitäre Anlagen überhaupt nicht.

Lebensmittel sind knapp. Die staatlichen Rationen sind inzwischen dreimal gekürzt worden. Zur Zeit werden pro Person und Monat drei Laib Brot verteilt. Milchpulver wird nur auf ärztliche Verschreibung an kranke Kinder ausgegeben. Die Preise sind in astronomische Höhen geklettert. Für eine Portion Fisch muß man einen halben Monatslohn bezahlen. Aber für die 70 bis 90 Prozent der Menschen, die arbeitslos sind, sind Nahrungsmittel außerhalb der staatlichen Zuteilung unerreichbar.

Langsam kann man sich vorstellen, was es heißt, „ein Land in das Mittelalter zu bomben“. Was von Beginn an jedem hätte klar sein müssen, wird nun unausweichlich: Ein Land über Nacht „ins Mittelalter zu bomben“ ist kein antiseptischer Vorgang, bei dem nur Infrastruktur in Mitleidenschaft gezogen wird, sondern eine unglaublich grausame Erfahrung, die jeder einzelne Mensch im Irak zu spüren bekommt.

Es wird schlimmer werden. Während die Kurden in den Bergen frieren, zieht in Bagdad und im Süden der Sommer ein. Je wärmer die Temperaturen, desto größer das Seuchenrisiko, und desto größer das Bedürfnis der Leute nach Wasser. Die Ernte im Juni ist gefährdet. Es gibt keinen Strom, um Bewässerungspumpen in Gang zu setzen, kein Benzin, um die Traktoren anzuwerfen. Was immer noch an Lebensmitteln verfügbar ist, es kann nicht gelagert werden, weil die Kühlanlagen nicht funktionieren. Es steht eine Hungersnot bevor.

Staatliche und private Institutionen scheuen keine Mühen, um wenigstens etwas Linderung zu verschaffen. Sie wissen sich einig, daß sie, zusammengenommen, nicht mehr als ein Tropfen im Ozean sind. Wenn ausländische Regierungen nicht umgehend massive Hilfsmaßnahmen ergreifen, so befürchtet das Rote Kreuz „ein langfristiges Desaster“. Dringend benötigt werden nicht nur Lebensmittel, Medikamente und andere Artikel, die laut Waffenstillstandsabkommen eingeführt werden dürfen. Dringend benötigt werden Ersatzteile, Landwirtschaftsgeräte, Pestizide, Generatoren, Fernmeldeanlagen, Chemikalien, Reparaturen für Kraftwerke und Raffinerien und — Ironie aller Ironien - Öl. Und dieses Mal reicht ein bißchen improvisierte Politik zwischen Angelurlauben nicht aus. Das Ausmaß des gegenwärtigen und zu erwartenden Leidens erfordert einige klare Anworten auf folgende Fragen: Gegen wen haben die Alliierten Krieg geführt — gegen Saddam Hussein oder gegen alle Irakis ? Wenn nicht gegen alle Irakis, dann gegen welche? Wenn das Ziel, Saddam loszuwerden, vorerst nicht erreicht wurde, haben dann geopolitische oder humanitäre Anliegen Vorrang? Wie weit erstreckt sich die Verantwortung der USA und ihrer Alliierten auch auf das Leiden der irakischen Bevölkerung? Wenn der Irak, während er Reparationsleistungen zahlen muß, seine Bevölkerung nicht versorgen kann, was dann? Und schließlich immer wieder die unausweichliche Frage: War es das wert? Jessica Mathews

Der Artikel erschien zuerst in der 'Washington Post‘. Die Autorin ist Vize-Präsidentin des „World Resources Institute“