FREVO STATT SAMBA

■ An der Nordspitze des südamerikanischen Kontinents liegt Recife, die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pernambuco. Eine Stadt voll Vitalität, die wie wenige andere die Vergangenheit und die Gegenwart...

An der Nordspitze des südamerikanischen Kontinents liegt Recife, die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pernambuco. Eine Stadt voll Vitalität, die wie wenige andere die Vergangenheit und die Gegenwart Brasiliens vereint.

VONSELVASAIDMAN

Im traditionsreichen Restaurant „A&P“ herrscht zur Mittagszeit reger Betrieb. Die Wahl fällt schwer: Typische Fischgerichte werden neben Spezialitäten aus dem „Sertao“, dem Landesinneren, serviert, wie zum Beispiel „Carne de Sol“, luftgetrocknetes Fleisch, garniert mit fritiertem Maniok, grünen Kernbohnen und der unentbehrlichen „manteiga da garrafa“ (Butter aus der Flasche!).

Wir freuen uns auf das köstliche Essen, aber eigentlich hat uns die Aussicht des „Restaurante Panoramico“ hierhergelockt. Es befindet sich im 12. Stockwerk eines Hochhauses mitten auf der Insel Sao Antonio. Mächtig ragen die Barocktürme der Kirche „Sao Pedro dos Clerigos“ und die ungewöhnliche Kuppel der Kapuzinerbasilika „La Penha“ aus dem Meer von Ziegeldächern. Hinter der Meeresbucht mit dem Riff, dem die Stadt ihren Namen verdankt, erhebt sich am Horizont die Skyline von Boa Viagem, dem modernen Strandviertel Recifes, wo sich das Bürgertum und auch viele Touristen geborgener fühlen als im pulsierenden Zentrum.

Wieder auf der Straße, scheint alle Übersicht verloren. Mehr als vierhundert Jahre Geschichte verschmelzen unter der heißen Sonne. Barockkirchen, holländische Giebelhäuser, Brücken, Kanäle und moderne Gebäude irritieren den Neuankömmling. Dem engen Gewirr aus fliegenden Händlern mit ihren improvisierten Märkten, Bettlern und Straßenkindern ist nur schwer zu entkommen. Der dichte Verkehr und nicht zuletzt der Ruf Recifes, eine gefährliche Stadt zu sein, vertreiben viele Touristen in die hübsche, kleine Schwesterstadt Olinda oder in das moderne und mondäne Boa Viagem.

Recife macht es dem Touristen schwer. Gilberto Freyre, der bekannte und umstrittene Soziologe, ein Sohn dieser Stadt, meinte in seinem Kurzen Führer zur Stadt Recife: „Recife ist eine Stadt, die sich lieber vor ihren Verehrern verbirgt, als sich ihrer Neugierde auszuliefern... keine Kirche, kein Hügel, kein Monument, keine Bucht hat es eilig, sich dem Reisenden zu zeigen. Sie ist halb blind vom grellen Licht und halb blind vom Schatten: Dort verstecken sich ihre schönsten Kirchen, als ob sie nicht gesehen werden wollten, außer von ihren Gläubigen.“

Portugiesen, Holländer und Zuckerrohr

Das Gründungsdatum von Recife ist umstritten. Irgendwann um das Jahr 1530 entstand eine französische oder eine portugiesische Siedlung an der Mündung der Flüsse Capibaribe und Beberibe, wo ein mehrere Kilometer langes Riff die Küste vor den wilden Atlantikwellen schützt. Die Portugiesen gründeten das benachbarte Olinda, die Schwesterstadt Recifes, im Jahr 1534. Olinda wurde zur Hauptstadt der „Capitania Pernambuco“ (Generalkapitanat Pernambuco). Recife blieb unterdessen ein unbedeutendes Städtchen, das als Zwischenstation für den Haupthafen Olinda diente.

Das Hinterland — Sümpfe und Mangrovenwälder — war damals Terra incognita. Recife und Olinda waren für die weißen Küstenbewohner Kulturinseln inmitten einer feindlichen Umwelt. Das sollte sich mit den ersten Versuchen, Zuckerrohr auf der Küstenebene von Pernambuco anzupflanzen, schnell ändern. Der Zuckerbedarf in Europa und der außerordentlich gute natürliche Hafen Recifes bildeten die ideale Kombination für einen Wirtschaftsboom in diesem fernen Gebiet am Atlantik.

1629 griffen die Holländer mit ihrer Westindischen Kompanie Olinda an, zerstörten die Stadt fast völlig und ließen sich dann in Recife nieder.

1654 war das brasilianische Abenteuer der Holländer zu Ende. Doch auch jetzt kam Pernambuco nicht zur Ruhe. Mehrere Volksaufstände und Streitigkeiten machten Recife als Rebellenstadt bekannt. Dieser rebellische Geist beruhte im Grunde auf der Rivalität zwischen Recife als Handelsstadt und Olinda als Wohnsitz der Großgrundbesitzer.

Die wirtschaftliche Entwicklung sollte zugunsten Recifes entscheiden. Im 19. Jahrhundert war der Zuckerboom zu Ende. Viele Städte des Nordostens erlitten eine schwere Rezession, von der sich manche nie erholten. Recife dagegen wuchs und erlebte in dieser Zeit einen großen Aufstieg. Bis heute ist Recife der erste Hafen des südamerikanischen Festlandes, den die Schiffe aus Europa anlaufen.

Die Stadt dehnte sich landeinwärts aus. Heute zählt Recife ungefähr eineinhalb Millionen Einwohner und ist damit die größte Stadt des Nordostens. Viele ihrer Bewohner sind im Zuge der Landflucht aus dem verarmten Sertao in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Großstadt gekommen. Meistens bleibt ihr Traum unerfüllt.

Zufluchtsort für die Menschen aus dem Sertao

Recife erwacht später als europäische Großstädte. Um 7.30 Uhr ist es noch relativ ruhig in der Rua do Hospicio, der Hauptgeschäftsstraße im zentralen Viertel Boa Vista. Hier liegt das „Hotel do Parque“, ein dreistöckiges Haus aus der Jahrhundertwende. Der ehemals imposante Eingang fiel der Modernisierung zum Opfer. Desto überraschender wirkt die Inneneinrichtung. Die Großzügigkeit an Spiegeln, Edelholzmöbeln und Marmorplatten zeugt von vergangenem Glanz. Doch auch hier ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen: durchgelegene Matratzen, blinde Spiegel, halb aus der Wand gerissene Garderoben und wackelnde Stühle...

Nach dem Frühstück kaufe ich die Tageszeitung 'Diario de Pernambuco‘ und bestelle einen Fruchtsaft in der kleinen Bar an der Straßenecke. Auf dem Weg zur Arbeit trinken hier viele schnell ihren Saft, das salzige Gebäck in der Hand. Mir fällt die Entscheidung schwer: „Suco“ aus Mango oder Papaya, Pinha oder Ananas, Mangaba, Graviola oder Tamarindo? Ich entscheide mich für Caju (Cashewfrucht), eine wunderbare aromatische Frucht, beinahe Symbol der Fruchtbarkeit Nordostbrasiliens.

Die „Rua da Imperatriz“ wurde nach ihrer Umwandlung zur Fußgängerzone ein Königreich der Kaufhäuser. Lojas (Läden), heißen die Konsumtempel: Lojas Pernambucanas, Lojas Brasileiras, Lojas Americanas. Dazu bieten unzählige „Camelôs“ auf ihren Straßenständen Handtaschen, Modeschmuck, Uhren, Sonnenbrillen, Früchte oder einfach nur Briefumschläge feil. Aus den Musikläden dröhnen die neuesten Hits. Zweihundert Meter weiter der Fluß Capibaribe. Bei Ebbe ist er eine stinkende Kloake, doch die Verschmutzung der Flüsse und der nahen Strände scheint die Behörden nicht weiter zu beunruhigen. Ich überquere die „Ponte Velha“ (alte Brücke) zur Insel Sao Antonio, dem Herzen der Stadt.

Mit der Verarmung des „Sertao“ wurde Recife verstärkt zum Zufluchtsort für Dürreopfer und Landarbeiter. Auf einem kleinen Platz treffen sich die „Repentistas“, Musikanten aus dem Nordosten. Ausgestattet mit einem kleinen Verstärker, singen sie durch ein Mikrophon ihre Litanei, die von Dürre und Sehnsucht nach dem Sertao erzählt. Etwas abseits vom Straßenrummel steht das Kloster „Sao Francisco“ mit der berühmten „Capela Dourada“ (Goldene Kapelle), eines der prachtvollsten Beispiele brasilianischen Barocks. Die von außen eher schlichte Kapelle ist im Innern fast völlig vergoldet. Harmonisch erscheinen die Heiligenbilder neben Stillebentableaus, die Früchte der Region wie Ananas oder Cashew darstellen. Zwischen Skulpturen und Altären sind Goldarbeiten allgegenwärtig und zaubern ein außerirdisches Licht. Draußen frage ich mich, wen oder was dieser blendende Reichtum repräsentiert, während ich ein paar Straßenkinder beim Klebstoffschnüffeln beobachte.

Der Weg zum Stadtteil Sao Jose im Westen der Insel läßt sich mühelos wie ein Kirchenrundgang gestalten: Santo Antonio, Livramento, das Karmelkloster, Sao Rosario dos Pretos folgen dicht aufeinander. Trotz der zentralen Lage ist das Straßenleben hier ruhiger. Handwerker, Tagelöhner und Händler essen in kleinen Kneipen zu Mittag und genießen das unentbehrliche „geladinha“ (ein eiskaltes Bier). Die engen Straßen bilden im Gegensatz zu den hispanoamerikanischen Städten, kein regelmäßiges Schachbrett. Die Kirche „do Ter¿o“ erhebt sich grazil auf einer spitz zulaufenden Straßenecke.

In Sao Jose ist der traditionelle Einzelhandel Recifes noch zu Hause. Keine Supermärkte oder Kaufhäuser sind hier zu finden. Statt dessen gemütliche, originelle Geschäfte wie die erste homöopathische Drogerie Recifes oder der weit bekannte Laden „A Brasileira“, auf Karnevalskostüme und -accessoires spezialisiert.

Trotz der starken Hitze bleibe ich noch eine Weile in Sao Jose. Die niedrigen Häuser bieten keinen Schutz vor der Mittagssonne. Von einstöckigen, einfachen und charmanten Häusern umgeben und mit der wunderschönen Barockkirche „Sao Pedro dos Clerigos“ an der Stirnseite, stellt der „Patio de Sao Pedro“ (St. Petershof) den intaktesten Häuserblock des alten Recifes dar. Sao Jose war früher Wohnsitz vieler Fischer. Hier wie auch überall an der Küste ist Petrus der „Favorit“ unter der Heiligen. Zu seiner Ehre geschaffen, zeigt das Eingangsportal der Barockkirche zwei überaus sinnliche Sirenen: Meeresengel oder vielleicht eine Erinnerung an Iemanja, die afrobrasilianische Göttin des Meeres? Die engen und scheuen Fassaden der Häuser am „Patio“ spiegeln in ihrer Schlichtheit alle Kultureinflüsse Recifes wider: strenge holländische Ordnung, katholische Zurückgezogenheit und brasilianische Farbenfreude erzeugen ihren einzigartigen Stil.

Obwohl die Altstadt abends als heißes Pflaster gilt, ist der „Patio de Sao Pedro“ mit seinen vielen Outdoor-Kneipen ein äußerst beliebter Treffpunkt. Hier fühlen sich alle Recifenses wohl: Freunde treffen sich zu einem Bier oder einer „Caipirinha“ unter dem Abendhimmel. Während des Karnevals wird der Platz zu einer der wichtigsten Bühnen und Tanzflächen der Stadt.

Kultur der Küste und des Landesinnern

Es wäre undenkbar, über Recife zu sprechen, ohne den Karneval zu erwähnen. Jedes Jahr pilgern Hunderttausende von Brasilianern und immer mehr ausländische Touristen nach Recife und Olinda, um den Karneval dort zu erleben. Er ist der drittgrößte in Brasilien, nach Rio de Janeiro und Salvador da Bahia.

Anders als der Samba in Rio oder das „Trio Eletrico“ in Salvador sind die Umzüge des Karnevals in Pernambuco vom Rhythmus des „Frevo“ geprägt. Der Frevo (vom Ferver-Kochen) — ein Leckerbissen für Musikhistoriker — entwickelte sich aus unterschiedlichsten Quellen. Der Meinung des brasilianischen Musikhistorikers Jose Ramos Tinhorao nach, verdankt er dem Capoeira — dem Kampftanz der ehemaligen Sklaven — seine Entstehung. Die Capoeira-Gruppen befanden sich jeweils zwischen zwei Musikkapellen, die miteinander einen musikalischen Wettstreit ausfochten. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts mischten diese Kapellen Polkas und Marschmusik mit dem brasilianischen Maxixe und den Capoeira-Liedern zusammen. So ist der Frevo, unverwechselbar brasilianisch, aus musikalischen Elementen dreier Kulturräume entstanden. Mit bunten Schirmen in der Hand bewegen sich die Tänzer in schnellen, fast akrobatischen Sprungschritten. Das Publikum, das die Umzüge begleitet, tanzt ebenfalls „in choreographischer Ekstase, im binarischen und halluzinierenden Rhythmus des Frevo“ — kommentiert ein Journalist.

Im Gegensatz zum Frevo geht der Maracatú fast ausschließlich auf afrikanischen Ursprung zurück. Diese Maracatú-Gruppen sind nur noch in Recifes Karneval zu finden. Jede Gruppe vertritt eine afrikanische „Nation“. Die Tänzer tragen schwere Masken mit buntem Kopfschmuck und wecken die Assoziationen afrikanischer Zeremonien. Inmitten jeder Formation marschiert unter einem Baldachin die „Rainha“, die Königin. Die Maracatú-Gruppen treffen sich nach den Karnevalsumzügen in der Kirche „Rosario dos Pretos“ (Rosario der Schwarzen), wo alle zum Rhythmus der Trommeln, quasi als Ausklang, tanzen. Der Frevo wird nicht nur zum Karneval gespielt. Intellektuelle und Musiker haben im Frevo längst einen Teil ihres Kulturguts erkannt. Musiker bemühen sich, alte Partituren zu bewahren; kulturbewußte Hörfunkredakteure widmen dem Frevo ganze Sendungen. Er ist aber kein musikalisches Relikt. Avantgardemusiker, wie der auch in Europa bekannte Hermeto Pascoal, bedienen sich des Frevo und anderer Rhythmen des Nordostens als Inspirationsquellen. Vor ein paar Jahren komponierte der Folkrockmusiker Alceu Valen¿a einen Frevo, der ein Hit in ganz Brasilien wurde.

Natürlich ist auch Recifes Karneval ein touristisches Ereignis. Die zunehmende Besucherzahl, die Interessen der Sponsoren und Behörden schließen sich zu einem Teufelskreis. Der Oberbürgermeister überlegt, eine geschlossene Arena für die Umzüge zu errichten, unter dem Vorwand, daß die Menschenmassen unkontrollierbar geworden seien. So wie in Rio der „Sambódromo“ zur totalen Kommerzialisierung des Karnevals führte, erwägt man die Möglichkeit, in Recife ein „Frevódromo“ zu bauen. Das würde das Ende des „Carneval de Rua“ (Straßenkarnevals) in Recife und das Ende einer noch nicht ganz vermarkteten authentischen Kultur bedeuten.

Als Großstadt des Nordostens vereinigt Recife die Kultur der Küste Brasiliens mit der des Landesinneren in einer bunten und faszinierenden Synthese. Dort, im alten und zum Teil heruntergekommenen Nordosten, liegen die Wurzeln brasilianischer Kultur. Dort werden sie immer zu finden sein.