piwik no script img

Freispruch für den Mörder?

8.Mai — die Vergangenheit, die nicht vergehen will: Der 86jährige Bundesminister a.D., Theodor Oberländer, will ein altes Urteil für ungültig erklären lassen. In Abwesenheit hatte ihn das Oberste Gericht der DDR 1960 wegen Mord zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Die Ostberliner Richter bogen damals Fakten im Sinne ihres antifaschistischen Weltbildes zurecht, dennoch sollte Oberländer als der bezeichnet werden, der er ist: ein ausgewiesener Experte des arbeitsteiligen Völkermords.  ■ VONGÖTZALY

Konrad Adenauer hatte lange geschwankt und seinem Opfer zunächst sämtliche Pensionsansprüche gesichert. Doch nun, am 3.Mai 1960, jagte er Professor Dr. Dr. Theodor Oberländer aus dem Amt: Der Bundesvertriebenenminister habe eine „tiefbraune Vergangenheit“; er war unhaltbar geworden. Das Oberste Gericht der DDR hatte ihn — in Abwesenheit — am 28. April zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Die Urteilsgründe: „fortgesetzter Mord, fortgesetzte Anstiftung zum Mord“. Tatorte: Lemberg, Satanow, Tarnopol, Kaukasus. Tatzeit: 1941 bis 1943. Am 4.Mai 1960 ersuchte der Generalstaatsanwalt der DDR den Generalbundesanwalt in Karlsruhe „um die Verhaftung und Überstellung des Verurteilten“. Das Schreiben blieb unbeantwortet. Da sich die Ostberliner Justiz nicht sicher sein konnte, ob „Oberländer, Theodor, geb. am 1.Mai 1905 in Meiningen, wohnhaft: Bonn, Husarenstraße 30“ das gegen ihn ergangene Urteil erhalten hatte, beschritt sie zwei Tage später den Weg der „öffentlichen Zustellung“, per Abdruck in der 'Berliner Zeitung‘.

Eine der schwereren Propagandaschlachten des Kalten Krieges endete mit einem klaren Eins zu Null für die DDR. Ganz neu waren die Vorwürfe gegen Oberländer nicht: Als Bundespräsident Heuss ihm zum 50. Geburtstag — also 1955 — das Großkreuz des Bundesverdienstordens überreichte und ein „herzlich gehaltenes Handschreiben“ beilegte, da wußte er, daß der so Geehrte am 9. November 1923 zusammen mit Adolf Hitler zur Feldherrenhalle marschiert war, deshalb vier Tage in U-Haft gesessen hatte, und eben deshalb später den „Blutorden“ für die Nazi-Kämpfer der ersten Stunde beantragte und Gauamtsleiter in Ostpreußen wurde.

Derzeit beschäftigt sich die sechste Strafkammer des Landgerichts Berlin mit dem Kassations-Begehren des nach den Gesetzen der DDR rechtskräftig Veruteilten, aber immer noch quicklebendigen Völkermörders. Oberländer will das DDR-Urteil für nichtig erklären lassen. Solche Anträge werden im allgemeinen schriftlich und ohne öffentliche Verhandlung entschieden.

Vielleicht macht es sich die sechste Strafkammer leicht, pickt sich einige Verfahrensfehler heraus, und stellt aufgrund formaler Mängel die Nichtigkeit des Urteils fest. Vielleicht aber versuchen die Moabiter Richter, sich mit der Substanz der Vorwürfe und Urteilsgründe auseinanderzusetzen, vielleicht wird Oberländers Begehren für ihn zum Bumerang. Bis heute zieht Oberländer eine breite Schleifspur mehr und auch weniger erfolgreicher Unterlassungs- und Schmerzensgeldklagen hinter sich her. Immerhin entschied das Oberlandesgericht München im Rechtsstreit Oberländer/Engelmann im Januar 1986 nach einer Intervention des Bundesgerichtshofes in letzter Instanz gegen den Antragsteller:

Bernt Engelmann, der den Prozeß seinerzeit als 'Spiegel‘-Korrespondent beobachtet hatte, wiederholte in seinem Buch Die Laufmasche die wesentlichen Gründe des Urteils. Oberländer verlangte daraufhin Unterlassung und Schmerzensgeld, bekam aber statt dessen bescheinigt, daß Engelmann ihn zu Recht als Mörder bezeichnet hatte. Der Schriftsteller habe keinen Grund gehabt, an der prinzipiellen Rechtsstaatlichkeit des DDR-Verfahrens zu zweifeln. Der Umstand, daß die Gesetzgebung und Rechtsprechung in der DDR andere Wege gegangen seien als in der Bundesrepublik „führt“, so das Münchner Gericht, „nicht eo ipso zur Nichtigkeit des Urteils“. Zwar sei gegen Oberländer damals in Abwesenheit verhandelt worden, das gebe es aber auch in der Bundesrepublik. Sicher schien den Münchner Richtern auch, daß Engelmann trotz der zweifelsohne propagandistischen Absicht des DDR-Verfahrens davon ausgehen konnte, daß die „Erfordernisse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ nicht verletzt worden seien. Nur nebenbei: In dem Münchner Zivilprozeß hatte Oberländer „eine Art Rachebedürfnis des KZ-Häftlings“ Engelmann behauptet. Nachdem auch solche Nachreden die Niederlage nicht verhindert hatten, sorgte Franz-Josef Strauß auf seine Weise für Satisfaktion: Am 18. Juni 1986 verlieh er ihm, der inzwischen auch das auf die Reinheit deutschen Blutes pochende Heidelberger Manifest unterschrieben hatte, den Bayerischen Verdienstorden „als Zeichen ehrender und dankbarer Anerkennung“.

In der Substanz verurteilten die Ostberliner Richter Oberländer 1960 aus drei Gründen: theoretische und propagandistische Vorbereitung der deutschen Ostexpansion, Beteiligung an Kriegsverbrechen während der Eroberung Ostgaliziens im Sommer 1941 und während des deutschen Vormarsches in den Süden der Sowjetunion 1942. Diese Vorwürfe sind zutreffend, dennoch wurden sie von den DDR-Juristen nur begrenzt und gelegentlich merkwürdig ungenau erörtert.

Völkermord gegen „Überbevölkerung“

Als Direktor des Königsberger Universitätsinstituts für Osteuropäische Wirtschaft, als Leiter des „Bundes Deutscher Osten“ und als Offizier des Geheimdienstes der Wehrmacht, der sogenannten „Abwehr“, arbeitet Oberländer von 1933 bis 1945 als Osteuropa- und Volkstumsexperte. Seine öffentlichen Äußerungen waren durchaus eindeutig. Im Jahr 1940 schrieb er in Himmlers Theorie-Organ 'Neues Bauerntum‘: „Die Eindeutschung der Ostgebiete muß in jedem Fall eine restlose sein. Solche Maßnahmen vollständiger Aus- und Umsiedlung mögen für die Betroffenen hart erscheinen — (...) aber eine einmalige Härte ist besser als ein durch Generationen währender Kleinkampf.“ 1941 schrieb Oberländer in derselben Zeitschrift: „Wo die Grenze geschlossenen deutschen Volkstums in 50 oder 100 Jahren verläuft, ist nicht nur eine Frage des Schwertes, sondern eine Frage des Blutes.“ Wenn Oberländer die Verdrängung und „Aussiedlung“ der polnischen Bevölkerung propagierte, so wußte gerade er, daß dies Völkermord bedeutete. Er selbst hatte 1935 eine „Überbevölkerung“ von neun Millionen Menschen in der polnischen Landwirtschaft festgestellt. Er sah darin das zentrale strukturelle Problem in Ostmitteleuropa. Oberländer deutete in seinen Schriften immer wieder an, daß nur Gewalt den „Circulus vitiosus“ der Überbevölkerung brechen könne. Und er nannte dafür immer wieder ein positives Beispiel, das das Ostberliner Gericht selbstverständlich unterschlug, nämlich die Kollektivierung in der Sowjetunion. In Oberländers Verständnis hatte sie das Problem der Überbevölkerung auf dem Land „radikal gelöst“. Die vielen Millionen Toten, die diese Zwangsmaßnahme Stalins gefordert hatte, betrachtet Oberländer als quantité négligable. 1943 schrieb er beispielsweise: „Als sich die neue Regierung (Stalins, d. Red.) gefestigt genug glaubt, holt sie, als das Bauerntum zu passivem Widerstand greift, die westeuropäische Entwicklung der Verminderung der Landbevölkerung durch die größte Bauernvernichtung aller Zeiten im Rahmen der Kollektivierung nach.“ Zwei Seiten weiter schrieb Oberländer über das zum deutschen Herrschaftsbereich gehörende Bulgarien: „Die wirklich in der Landwirtschaft tätigen Menschen verhielten sich zu den bloßen ,Mitessern' wie 1:0,7 ... Nur durch die Verminderung der Bevölkerung auf dem Lande kann eine Besserung der dortigen wirtschaftlichen Lage herbeigeführt werden.“ Die Gewalttätigkeit solcher Sätze liegt auf der Hand. Sie richteten sich an die deutsche Führung, von der Oberländer wußte, daß sie zu schier jeder „Aussiedlung“ bereit war.

Das Mittel, das er zu diesem Zweck als Volkstumsexperte propagierte und als Offizier der Abwehr praktizierte, war, die einzelnen Völker und Minderheiten in Osteuropa gegeneinander aufzuhetzen, sie zu Pogromen und zur Vertreibung anderer Völker anzustiften.

Als die Deutsche Wehrmacht am 29. Juni um 11 Uhr morgens in Lemberg (Lwow) einmarschierte, war der Abwehroffizier Theodor Oberländer dabei. Er hatte zuvor ukrainische Nationalisten, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt und der entsprechenden Teilung Polens auf die deutsche Seite geflohen waren, zu einer Sondereinheit zusammengestellt — das Bataillion „Nachtigall“. Mit dieser Truppe rückte er nach Lemberg ein. Die Bevölkerung der Stadt war teils polnisch, teils jüdisch und teils eben ukrainisch. Die offizielle DDR- Version zu den deutschen Verbrechen in Lemberg lautet: „Eine der ersten großen Massenexekutionen erfolgte Ende Juni 1941 in Lwow, wo eine Vorausabteilung der Wehrmacht — ein Bataillon des Amtes Ausland/Abwehr unter Hauptmann Theodor Oberländer — in sieben Tagen ungefähr 5.000 Menschen ermordete.“ Oberländer behauptete nun gegenüber der Bonner Staatsanwaltschaft, die 1959 eher unfreiwillig ein Ermittlungsverfahren gegen ihn führte, es bald darauf einstellte und die Akten als „nicht archivwürdig“ vernichtete — gegenüber dieser Staatsanwaltschaft behauptete Oberländer, seine Leute, und insbesondere er, hätten „nicht einen Schuß abgegeben“. Vielmehr hätte seine Einheit in den Lemberger Gefängnissen mehr als 2.000 Leichen von Menschen vorgefunden, die die Sowjets vor ihrem Abzug ermordet hätten.

Organisierte Judenpogrome

Tatsächlich hatten die Russen vor ihrem Abzug etwa 2.000 Ukrainer und Polen in den Gefängnissen der Stadt ermordet. Ein Faktum, das der DDR-Prozeß vollständig unterschlug. Deshalb konnte auch nicht erörtert werden, daß die Wehrmacht sofort in ganz Lemberg Plakate über die „Greueltaten der jüdischen Bolschewisten“ anschlagen ließ. Über den gesamten Ablauf berichtete der jüdische Überlebende Adolf Folkmann in einem Buch, das 1944 in Stockholm erschien:

„Am folgenden Tag erschienen deutsche Plakate und von den Deutschen ukrainisch und polnisch abgefaßte Flugblätter in der Stadt. Der deutsche Militärkommandant teilte darin der ukrainischen und polnischen Bevölkerung mit, daß in den Gefängnissen die Leichen Tausender ermordeter Ukrainer und Polen aufgefunden worden seien. Alle seien von jüdischen Bolschewiken ermordet worden. Mit grauenhaften Details wurde die Volksstimmung gegen die Juden aufgehetzt. Die Agitation fiel auf guten Grund. Tausende von Juden wurden aus ihren Wohnungen geschleppt, geprügelt, getreten, ermordet. Tausende andere wurden in das Gefängnis auf der Zamarstynowska zusammengetrieben. Die deutschen Soldaten, Polizisten und Behörden nahmen an diesen Judenverfolgungen selbst nicht teil. Sie verhielten sich passiv und teilten nur immer neue Details über die grausamen Morde an Bürgern, Polen und Ukrainern während der Russenzeit mit, die alle nun als die Taten der Juden dargestellt wurden. Die Pogrome dauerten Tag und Nacht ungefähr zehn Tage lang. Es waren in diesen Tagen ungefähr zehntausend Juden umgebracht worden.“

Die Aufgabe des „Ukrainerspezialisten“ Oberländer bestand genau darin, die Pogrome zu organisieren, die ukrainischen und polnischen Bürger der Stadt auf die Juden zu hetzen. Er war zuständig, Kollaboration, Diversifikation und „Rache“ zu organsieren. Er tat das mit den Methoden und Ergebnissen, die Folkmann beschreibt. Oberländer hat in Lemberg Massenmord organisiert — als Drahtzieher. Er machte Polen und Ukrainer zu seinen Werkzeugen. Davon durfte bei dem Ostberliner Tribunal selbstverständlich nicht gesprochen werden. Und auch nicht davon, was der Überlebende Adolf Folkmann als den „wirklichen Zweck“ der von Oberländer angeleitenen Aktion beschrieb: „Ein großer Teil der ukrainischen und polnischen Bevölkerung der Stadt hatte jüdische Wohnungen geplündert und jüdische Wertsachen geraubt. Nun waren sie alle Komplizen der Deutschen gegen die Juden geworden.“

Weil das Thema „Kollaboration“ um jeden Preis verschwiegen werden sollte, verzichtet das Oberste Gericht der DDR sogar auf wichtige Beweisdokumente. In einem der Nürnberger Dokumente heißt es:

„In Lemberg trieb die Bevölkerung etwa 1.000 Juden unter Mißhandlungen zusammen und lieferte sie in das von der Wehrmacht besetzte GPU-Gefängnis ein.“

Dort hielt sich nach eigenen Aussagen auch Oberländer zusammen mit einer Abteilung seines Bataillons „Nachtigall“ auf.

Folkmann berichtet: „In brüllenden und johlenden Zügen schleppten große Menschenmassen Hunderte und Aberhunderte in die Gefängnisse. Die Juden mußten für die während der Russenzeit ermordeten Gefangenen Gräber schaufeln. Dann mußten sie für sich selbst die Gräber ausheben.“

Das Urteil, das das Oberste DDR- Gericht 1960 gegen Oberländer fällte, ist in den beschriebenen Punkten schwach. Der Folkmann-Bericht wurde unterschlagen. Der Angeklagte war in der deutschen Abwehr dafür zuständig, die Kollaboration in Osteuropa mit allen Mitteln zu fördern. Er tat das mit grausamer Konsequenz. Die Wahrheitsfindung im Ostberliner Gerichtssaal mußte Schaden nehmen, weil die mörderischen Erfolge dieser Kollaborationspolitik unter ein absolutes ideologisches Tabu gestellt wurden.

Der wahre Theodor Oberländer ist noch schlimmer als der seinerzeit als abwesendes Phantom verurteilte — er war kein einfacher Mörder, er ist ein theoretisch und praktisch ausgewiesener Experte des arbeitsteiligen Völkermords. Die Kassationskammer des Moabiter Landgerichts steht vor einer Entscheidung, die ihr mehr abverlangt als geölten Rechtsformalismus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen