: Herzenssache Fleisch
■ Wiedereröffnung der »Fleischerei« in der Tucholskystraße
Das Fleisch ruft, ich setze mich in Bewegung. Ab durch die Mitte. Langsam die Oranienburger entlang, doch dann, einer plötzlichen Regung folgend, der Schwenk in die Tucholsky. Auf dem Trottoir des kulturellen Sperrbezirks eine Ansammlung städtischer Elementarteilchen. Herkunftsort Kreuzkölln oder Schöneburg. Die Zeiten der geordneten Schlangenführung vor der vor einem Jahr zum Kunstbesetzertempel gewendeten »Fleischerei« sind vorbei, die Nahrungskette unterbrochen. Dieses Haus ist besetzt mit Zeichen. Viehaustrieb verweist auf Würste, geschlitztes Federbett auf Max und Moritz (oder Milben), weiße Kacheln auf gewetzte Messer, Räucherofen auf Leichen im Keller.
Trotzdem dürfte es für die Splatterfreaks der Stadt relativ uninteressant bleiben. Denn für die Betreiber ist Fleischeslust eine reine Herzenssache. Und die Band des Freitagabends, die zur Wiedereröffnung aufspielte, verspritzt kein Blut. Eine Orgie hätte es dennoch werden können. Wenn, ja wenn Jim Meneses, Anthony Coleman und Dave Shea von Tubes Of Russia auf eine Nahrungsaufnahme beim Chinesen verzichtet hätten. Volle Bäuche musizieren ungern miteinander. Jim unterließ aus Gründen der Verdauung den exzessiven Einsatz seiner Trommelstöcke, Anthony verging sich solistisch an seinen Keyboard-Attacken aus Naked City, dabei dem jungen Turntable-Virtuosen Dave zurufend: »That's the point, guy!« Doch ein solcher Ort reizt nun mal zu Ausschreitungen. Ich fand Stück zwei und sieben am gelungensten, andere entschieden sich für vier und acht. Aber Streit kam nicht auf. Die Vereinsfreunde von der Guten Musik, die die Musiker in die Stadt holten, vertrugen sich prima mit der HdK- nahen Thekenbesatzung. Und wem der Kopf gar zu sehr dröhnte, der verzog sich in die benachbarte »Bücherei«. Oder ging eben mal um die Ecke, zur »birth party«. Ab durch die Mitte. Baumgartner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen