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„Kontinent im Wind des Wandels“

Über zwanzig Staaten Afrikas haben während der letzten anderthalb Jahre den Weg ins Mehrparteiensystem eingeschlagen. Hiesigen Medienmachern war das nicht mal eine Sonderreihe im Fernsehen wert. Dabei droht das Experiment Demokratie durch sinkende Rohstoffpreise, die Zinslast des Schuldenbergs und von außen verordnete Sparauflagen zu scheitern. Der eigennützige Norden erstickt den Aufbruch.  ■ INTERVIEWMITWALTERMICHLER

taz: Die 80er Jahre wurden oft als „verlorenes Jahrzehnt“ für Afrika angesehen. Sind die 90er Jahre ein Jahrzehnt des Aufbruchs? Wird aufgeholt, was man verloren hatte?

Walter Michler: Politisch ist in der Tat eine neue Ära angebrochen. Schwarzafrika erlebt derzeit seine zweite Wiedergeburt. Wie vor dreißig Jahren wird es erneut von einem Wind des Wandels durchströmt. Rund zwanzig Staaten haben sich während der letzten anderthalb Jahre für den Weg zur Mehrparteiendemokratie entschieden — mehr als die Hälfte Schwarzafrikas. Praktisch alle Staaten, die auf den Marxismus-Leninismus eingeschworen waren, haben sich in den letzten anderthalb Jahren von dieser Ideologie losgesagt. Man muß folglich von einer eigenen afrikanischen Perestroika sprechen.

Die spektakulären Reformprozesse sind vielfach erst durch den Druck der Bevölkerung zustandegekommen. Und die friedliche Revolution Schwarzafrikas wurzelt in einer neuen Generation, die ihre Bildung schon während der Zeit der Unabhängigkeit genossen hat und eine völlig andere Position zu den Problemen und Perspektiven ihrer Heimatländer vertritt als die noch herrschenden alten Eliten. Diese neue Generation pocht unmißverständlich auf die Demokratisierung, auf die Bürgerrechte wie wir sie auch in den westlichen Demokratien kennen.

Geht es dieser neuen Generation um die Einführung einer europäischen Demokratie oder sollen auch eigene afrikanische Demokratieformen entwickelt werden?

Es geht bei der Demokratisierung auch um die Durchsetzung von Menschenrechten wie freie Meinungsäußerung oder Versammlungsfreiheit, und diese Menschenrechte gelten mittlerweile weder als westlich, östlich oder sonst irgendwas, sondern sind Universalgut der Menschheit. Und insofern ist es keine Kopie dessen, was wir hier im Westen haben, wenn es natürlich auch gewisse Einflüsse gibt. So vertritt beispielweise die bedeutende äthiopische Oppositionsbewegung, die EPRDF, ein recht kompliziertes Demokratisierungmodell. Es gibt zwei Stränge der politischen Struktur, einerseits eine Art Rätesystem — Dorfräte, Gemeinderäte, Stadträte, Provinzräte und der Nationalrat — und diese Räte sind die eigentlichen Parlamente. Daneben gibt es Parteien, die ohne Einschränkung gegründet werden können, und diese können dann ihre politischen Vorstellungen in aller Breite dem jeweiligen Rat zur Kenntnis bringen. Der jeweilige Rat entscheidet aber dann gewissermaßen autonom aufgrund der verschiedenen Problemlösungen.

In Ländern wie Benin und Kongo gibt es das Modell der Nationalkonferenz, eine breite Aussprache im ganzen Land über das, was die Regierung getan und unterlassen hat, und was sich ändern müßte. Man will erst mal eine Diskussionskultur entwickeln, so daß man im Rahmen des Staates über die Probleme reden kann.

Ich glaube, daß es diese Diskussionskultur schon immer gegeben hat. Sie ist ein fester Teil der schwarzafrikanischen Traditionen. Viele afrikanische Intellektuelle, Vertreter der neuen politischen Generation, verweisen mit großem Nachdruck darauf, daß die angelaufene Demokratisierung der Tradition und Geschichte ihrer jeweiligen Länder entspricht. In Benin beispielweise sagte mir Bischof De Souza, Vorsitzender der Nationalkonferenz: Wenn in unserem Land, dem Königreich von Dahomey, der König einen Fehler beging, wurde er von einer entsprechenden Institution des Hofes verurteilt und konnte geschlagen werden. Beging er einen ganz gravierenden Fehler, der sein Volk insgesamt schädigte, wurde er von dieser Institution gezwungen, den Giftbecher zu trinken. Ein Land, das schon vor Jahrhunderten derartige Kontrollinstanzen hervorgebracht hat, so De Souza, kann doch nicht unreif sein für die Demokratisierung. Solche Argumente seien nichts anderes als rassistisch.

Nun gibt es in Benin also die Demokratie, sie muß die Wirtschaftsprobleme des Landes lösen. Kann eine demokratische Regierung die Probleme besser lösen?

Die Wirtschaftsprobleme, denen die neuen demokratischen Regierungen ausgesetzt sind, sind ungeheuer schwer zu bewältigen. Sie sind sogar zum Teil unüberwindbare Hürden, wenngleich es für die demokratischen Regierungen natürlich ein bißchen mehr Hilfe geben wird als für die alten Einparteienregime.

Dann zahlt sich die Demokratisierung natürlich aus. Das heißt aber, die wirtschaftliche Abhängigkeit besteht unter anderen politischen Vorzeichen fort.

Man muß sagen, daß der Demokratisierungsprozeß unter außenwirtschaftlichen Kriegsbedingungen gestartet wurde. Strangulationen von außen bedrohen in Schwarzafrika das Überleben. Es handelt sich um hauptsächlich um drei außenwirtschaftlichen Stricke — erstens der Rohstoffpreisverfall, zweitens die Überschuldung und drittens die unangemessenen Sanierungsauflagen.

Der Rohstoffpreisverfall, der während der achtziger Jahre andauerte, hat, wählt man ein gerechtes Niveau zum Vergleichsmaßstab zu einem Einnahmeverlust von 400 bis 500 Milliarden US-Dolar geführt. Und dieser Verfall ist deshalb so schlimm, weil die Schwarzafrikaner auf dem Weltmarkt praktisch nichts anderes anzubieten haben als Rohstoffe. Eine Ausbeutung Schwarzafrikas durch die Industriestaaten nie gekannten Ausmaßes ist im Gange. Ihr Umfang ist sicherlich wesentlich größer als es in der offiziellen Kolonialzeit der Fall war.

Zum zweiten Punkt, der Überschuldung: Schwarzafrika ist nicht verschuldet, sondern überschuldet — die Schuldenstände sind einfach zu hoch. Da hilft nur Entschuldung. Die tatsächlichen Entschuldungsmaßnahmen belaufen sich jedoch auf maximal zehn Prozent der Außenstände, ungeeignet, das Problem auch nur zu mildern. Die Staaten Schwarzafrikas haben nach Angaben der OECD in den Achtzigern 50 Milliarden Dollar Zinsen gezahlt — ein Gegenwert von 200.000 Dorfschulen und 200.000 Gesundheitsstationen.

Es gibt ja Forderungen, Afrika sollte sich einfach aus dem Welthandel zurückziehen und sich auf die Selbstversorgung und die Subsistenz konzentrieren.

Das sind traumtänzerische Utopien. Wenn man in der Welt, wie sie nun einmal heute ist, einen Entwicklungsprozeß in Gang setzen will, muß man gewisse Dinge importieren. Es kann ja nicht Sinn sein, daß Afrika seine Druckmaschinen, die es für die Herstellung von Schulbüchern benötigt, selbst mühsam konstruiert und dafür 200 Jahre in Anspruch nimmt. Gewisse Dinge müssen importiert werden, und dafür braucht man Devisen. Diese Devisen können nur über den Export erwirtschaftet werden.

Ihr dritter Punkt, die Sanierungsprogramme, hängt ja damit unmittelbar zusammen — wenn man sich auf den Weltmarkt einläßt, paßt man sich an.

Reformen müssen natürlich sein. Es muß in Schwarzafrika effizienter gewirtschaftet werden. Den Sanierungsauflagen, also der sogenannten Strukturanpassung, ist jedoch vorzuwerfen, daß sie einfach zu drakonische Sparprozesse verordneten, und diese haben wiederum dazu geführt, daß die Ausgaben für Gesundheit, für Bildung reduziert wurden. Und wenn man in Schwarzafrika diese Ausgaben noch einmal reduziert, dann wird aus wenig nichts, und deshalb sind in riesigen Regionen des Kontinents Impfprogramme, die es vorher gab, gänzlich aufallen. Und das führt dazu, daß die Kindersterblichkeit ansteigt. In anderen Regionen sind es die Gesundheitsdienste für die Erwachsenen, was auch dazu führt, daß die Todesraten in die Höhe schnellen. Solche Sanierungsauflagen können vielleicht eine entwickelte Wirtschaft wie die unsere gesunden lassen, aber sie passen nicht auf die Verhältnisse in Schwarzafrika.

Die drei Strangulationen — Verarmung aufgrund von Rohstoffpreisverfall, Überschuldung und Sanierungsprogramme — führten laut UNICEF dazu, daß 1988 320.000 Kinder zusätzlich in Schwarzafrika gestorben sind. Auf das 80er Jahrzehnt hochgerechnet muß man von mehreren Millionen Toten ausgehen, die aufs Konto der Industriestaaten gehen. Sie haben diese drei außenwirtschaftlichen Strangulationen Schwarzafrikas zu verantworten.

Was kann unter solchen Bedingungen eine afrikanische Regierung überhaupt tun?

Die Situation ist in der Tat hoffnungslos. Es sind riesige Mühlsteine, zwischen denen sich die Regierungen befinden. Da sind die internen Schwierigkeiten — die Bevölkerung pocht immer mehr auf eine wirtschaftliche Kehrtwende und macht natürlich auch die Politiker ihrer Länder für die Wirtschaftskatastrophen verantwortlich; und auf der anderen Seite sehen sich diese Politiker den Industriestaaten gegenüber, die nicht zu einer Kurskorrektur gegenüber Schwarzafrika bereit sind. Denn gerade auch jetzt, nach der Umwälzung in Osteuropa, soll das Weltwirtschaftssystem so bleiben, wie es ist.

Das ist ja ein pessismistisches Bild — auf der einne Seite die katastrophalen Bedingungen und auf der anderen Seite diese ungeheure Hoffnung der Demokratiebewegungen, daß man etwas verändern kann. Ist es Illusion, daß die Leute erwarten, irgendetwas verändern zu können, indem sie auf die Straße gehen?

Die einheimische Bevölkerung fordert eine materielle Besserstellung. Und die Demokratisierung muß wenigstens eine ganz bescheidene wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Gang setzen. Kommt sie nicht, wird die Massen der Bevölkerung den Demokratisierungsprozeß in den nächsten Jahren nicht mittragen. Dann kann man davon ausgehen, daß die ethnischen Konflikte in einer ganz neuen Art und Weise aufbrechen werden, und eine neue und andersartige Eskalationsstufe erreichen als bisher. Die Demokratiserung, und das ist die Misere der Politiker, kann aber eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung nur dann ermöglichen, wenn es bei den Strangulationen Entlastung gibt. Diese Kehrtwende freilich wäre nur möglich, wenn es zu einer Perestroika unserer Politik käme, unserer Beziehungen gegenüber Schwarzafrika. Eine solche Perestroika ist nicht in Sicht. Zweitens müßte es „Startpakete“ von außen für die Demokratisierung geben: Darin müßte erstens eine Entschuldung des jeweilgen Landes enthalten sein, und zwar eine völlige Entschuldung. Zweitens müßte diese Startpaket wirklich zusätzliche Mittel für Wiederaufbau und Neubeginn enthalten. Unsere Unterstützung müßte verdoppelt werden.

Solche Startpakete werden für Länder wie Polen realisiert — also ist es möglich. Offenbar besteht ein Wahrnehmungsunterschied: Man hält die Polen für fähig, sich selber hochzuarbeiten, aber die Afrikaner nicht.

Es ist für mich erschütternd, wie die Medien mit diesem Kontinent umgehen. Es hat nicht eine einizge Sonderberichterstattung in den Hauptprogrammen des Fernsehens über die geradezu spektakulären politischen Reformprozesse in Schwarzafrika gegeben. Die afrikanische Perestroika ist hier nicht vermittelt worden, und das ist für den deutschen Journalismus und die Mediengewaltigen eine Katasrophe und ein Skandal. Ebenso schlimm oder noch schlimmer ist die Tatsache, daß über die außenwirtschaftlichen Strangulationen, über den Krieg gegen Schwarzafrika, ebenfalls nicht berichtet wird. Niemandem hier in dieser Gesellschaft ist sich bewußt, daß unsere Politik in Schwarzafrika während des vergangenen Jahrzehnts einen unübersehbaren Leichenberg produziert hat. Für mich ist das nur damit erklärbar, daß bei den Mediengewaltigen und bei den meisten Journalisten die koloniale Entrümpelung noch nicht stattgefunden hat. Natürlich gibt es dann aus der Öffentlichkeit keinen Druck auf die Politik, anders mit Afrika umzugehen.

Das ist wohl auch kaum denkbar, weil die Bevölkerung hier ja durchaus davon profitiert. Nun war ja wohl eine der wirksamsten Medienbeschäftigungen mit Afrika über die letzten zwölf Monate der Fernsehfilm „Der Marsch“, in dem eine riesige afrikanische Flüchtlingswelle nach Europa zog. Halten Sie die Diskussion über Flüchtlingsströme für ein geeignetes Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen?

Ich glaube, das geht in die falsche Richtung. Indem man Ängste schürt, kann man keine sinnvolle Veränderung von Politik in Gang setzen. Wir müssen viel nüchterner an das Problem herangehen. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, daß Schwarzafrika verelendet und daß es, weil wir nicht in geeigneter Form helfen, zu neuen Formen von Kriegen kommt, zu Verarmungskriegen. Das wird insgesamt das politische Weltgeschehen so negativ beeinflussen, daß es auch Rückwirkungen auf uns haben wird. Zum anderen ist eine Veränderung unserer Politik gegenüber Schwarzafrika eigentlich eine Selbstverständlichkeit, wenn man den Wertekatalog nimmt, der hinter unserer Verfassung steht. Ein Rechtsstaat kann nicht nur nach innen ein Rechtsstaat sein, sondern er muß auch ein Rechtsstaat nach außen sein. Im Falle der Bundesrepublik heißt das: Sie muß nach außen sozialverträglich handeln. Das hat sie noch nie getan in ihrer Geschichte. Deshalb müßte es zu einer Perestroika in unseren Außenwirtschaftsbeziehungen kommen. Interview: Dominic Johnson

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