Die Mutter unserer Courage

Ein Gespräch mit Judith Malina, Mitbegründerin des Living Theatre  ■ Von Piotr Olszowka

Das Berliner Renaissance-Theater war nur halb gefüllt, als Judith Malina am 5. Mai im Rahmen des Berliner Theatertreffens ihre „Berliner Lektion“ vortrug. Offensichtlich ist die Mitbegründerin des legendären Living Theatre aus New York vielen heute kein Begriff mehr. Was Judith Malina dann allerdings eher anekdotisch vortrug, handelte von ihren Aufenthalten in der Stadt Berlin, erzählte von ihrer Emigration (Malina wurde 1926 als Tochter eines Rabbiners und — der Konvention der Zeit geschuldet — einer verhinderten Schauspielerin in Kiel geboren), betonte immer wieder ihr anarcho-pazifistisches Anliegen und fragte zu guter Letzt fast peinlich anrührend: „Wer will mich haben? Denn ich werde Euch kritisieren.“ Nur über eines sprach sie — außer in Stichworten zur Legendenbildung — so gut wie gar nicht: über ihre Theaterarbeit.

1947 gründete Judith Malina mit ihrem 1985 verstorbenen Mann, dem Maler Julian Beck, in New York das Living Theatre. Zu den wichtigsten Produktionen der kollektiv und mit „totalem Anspruch“ arbeitenden Theatergruppe gehört „Antigone“. 1968 entstand „Paradise now“, das die Theaterkonventionen endgültig sprengte. Neben dem „armen Theater“ von Grotowski und dem „Theater des Todes“ von Kantor trug das Living Theatre wesentlich zur Krise und zu neuen Aufbrüchen im Theater der 70er Jahre bei. Das Gespräch mit Judith Malina fand am 2. Mai 1991 in Berlin statt.

Piotr Olszowka: Was bedeutet heute der Begriff Off Broadway?

Judith Malina: Off bedeutet nur, daß wir kein Geld haben. Wir zählen hoffentlich zu den Theatern, die etwas suchen, die künstlerisch, politisch oder moralisch nützlich sind. Manchmal macht das kommerzielle Theater ganz interessante Stücke, die man mit Interesse sehen kann — warum nicht ? Nur, das ist nicht mein Metier.

Nach dem Tode Julian Becks hat das Living Theatre ein Stück mit dem Namen Retrospectacle vorbereitet. Was war das Ziel dieser Arbeit — ein Neuanfang in einem Nietzscheanischen Gedankenkreis oder ein Abschluß?

Beides. Wir haben uns gesagt, um dieses Kapitel ein für allemal abzuschließen, müssen wir die ganze Geschichte von 35 Jahren schnell wiederholen — so in zwei Stunden — und sie uns ansehen, um von den Fesseln der Vergangenheit freizukommen. Ich glaube, es hat uns sehr geholfen. Ich finde nicht, daß die Zeit Piscators anders war und von unserer Zeit getrennt, und jetzt sind es die jungen Leute. Das ist ein Kontinuum. Wir sind ein Teil dieses Kontinuums. Eine Arbeit in verschiedenen Kapiteln; mit verschiedenen Stücken und Stilen; das heißt, immer weitergehen; die Notwendigkeit neuer Formen, das Wegfallen alter Formen.

In dieser Kontinuität gibt es eine Suche nach Transzendenz. Die Avantgarde hat zeitweise geglaubt, sie gefunden zu haben. Die 4'33'' von Cage in der Musik; der Konzeptualismus; das Theater, das gar nichts macht, sich nur noch auf das bloße Dasein reduziert. Dann kam als eine Reaktion der Hunger nach Bildern und — im Theater — Hunger nach dem „Spektakel“... Man ging zurück zur Klassik, zur Reinterpretation. Andererseits hat Grotowski mit geschlossenen Projekten angefangen — von denen die Öffentlichkeit so gut wie nichts erfährt. Welche Parallelen und welche Unterschiede gibt es zwischen dem Weg des Living Theatre und dem des Theaters von Kantor?

Im Dreieck der Erfahrungen dieser drei Truppen entstand die Spannung eines neuen Theaters: Wir haben alle Extreme berührt, die Peak- Experiences nicht nur des Theaters, aber auch eines homo politicus, eines homo mortalis und eines homo transcendens gezeigt. In diesem Dreieck fühlten wir uns wie explorers of the same territory, der eine fand diese Lösung und der andere suchte diese, wir lernten voneinander, wir gaben einander Ideen, Inspirationen. Das Ziel des Living Theaters ist es, den Weg der friedlichen, anarchistischen Revolution zu erschließen. Das ist aber sehr weit. Wir haben einen ersten, ganz kleinen Schritt getan. Das Alte zu zerstören, ist das Uninteressanteste am revolutionären Zyklus. An diesem Punkt haben wir 1968 aufgehört, weil wir nicht wußten, was stattdessen gut wäre.

In einigen westdeutschen Kleinstädten gibt es derzeit auch anarchistische Experimente...

Von solchen Beispielen, auch wenn sie klein sind, wenn sie nicht immer wirken, wenn sie nur ein Jahr halten, müssen wir lernen, um sagen zu können, das Utopische ist möglich ! Das Living Theatre versucht es auch, zusammenzuleben, zusammenzuarbeiten. Gerade jetzt öffnet sich für die anarcho-pazifistische Utopie eine neue Chance, weil man nicht weiß, was man glauben kann. Der Kapitalismus und der Kommunismus haben gleichermaßen versagt, was die Erfüllung der menschlichen Hoffnung auf ein glückliches Leben anbetrifft. Was ist aber der nächste Schritt? Wir haben dafür Modelle, aber wir haben auch eine wahnsinnige Angst, und diese Angst gilt es zu überwinden. Damals herrschte eine Lethargie, die man mit Schrei und Provokation bekämpfen konnte, heute ist es Angst, und man kann nicht schreien, hab keine Angst! Man muß sagen, hör mal, ich hab auch Angst...

Sie doch nicht, sie sind die Mutter unserer Courage!

Um Gottes willen!

Sind sie der Rolle der mutigen Kämpferin, den hohen Ansprüchen und Erwartungen, die an Sie und das Living Theater gestellt werden, nicht müde? Würden sie nicht gerne ein formschönes, nettes Theater machen?

Im Gegenteil, ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, mehr Jahre im Leben. Ich muß mich immer anstrengen, nicht zu weit zu gehen. Mein Impuls drängt mich, viel mehr zu tun, als es wahrscheinlich effektiv wäre. Ich muß mich immer zähmen...

Könnten Sie mir etwas über das Stück „Poland 1931“ aus dem Jahr 1989 erzählen?

Es ist ein Gedicht, das Hannon Reznikov (den Judith Malina nach dem Tod Julian Becks heiratete, Anm. d. Red.) auf die Bühne übertragen hat. Über die Geschichte unserer Eltern, über die Emigration. Wie wir in der neuen Welt den alten Stoff behalten, die Stärke wie die Schwäche. Ich bin eine polnische Jüdin, die als deutsche Jüdin aufgewachsen ist. Meine Eltern waren sehr gute Menschen, aber rassistisch gegen polnische Juden, wie es damals üblich war. Mein Vater hat in einer Synagoge gepredigt: „Man darf unsere dummen, schmutzigen polnischen Brüder nicht hassen, wir dürfen sie nicht hassen!“ Nachdem meine Eltern gestorben sind und ich schon dreißig war, habe ich bei der Sichtung der Familienpapiere festgestellt, daß meine Eltern beide polnischer Abstammung waren. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich, wir wären echte deutsche Juden. In Poland 1931 habe ich eine polnische Jüdin gespielt, Esther — das war die Großmutter des Dichters — , die nach Amerika kommt. Etwas ähnliches habe ich in dem Film Die Feinde - Love Story nach Isaac Bashevis Singer dargestellt. Ich muß jetzt Filme machen, um das Theater zu unterstützen. Ich bin gerade sechs Monate in Hollywood gewesen, um Filme zu drehen. Das Theater war zum ersten Mal seit vierzehn Jahren ohne mich auf Tournee.

Macht Ihnen die Filmarbeit Spaß — „Radio Days“ und „Awakings“ sind doch keine schlechten Filme?

Ja, ich habe Glück, daß ich keine schlechten Filme machen mußte. Spaß macht das schon, aber es ist nicht meine Arbeit. Was im Film nicht möglich ist, ist die Entwicklung einer Rolle oder einer Idee. Im Theater probiert man dies und das, versucht die Rolle so oder so zu spielen und endlich kommt man durch. Beim Film ist das ganz anders, man muß etwas nur einmal machen und sobald man es richtig macht, ist es vorbei: perfect, pretty. Vielleicht übt man das zwanzig Mal am Tag, aber sobald es gefunden ist, ist es vorbei. Es kommt mir so komisch und fremd vor. Richtig ist nur das, was einem Paar Augen — dem Regisseur — gefällt. Im Theater ist die Entwicklung umgekehrt: heute hab ich es versaut, morgen mach ich das wieder gut.

Ist Eure Arbeit eine Fortsetzung der Ästhetik des Widerstandes?

In manchen Bereichen kann es sicher nur Widerstand geben, aber in anderen Sachen muß die Möglichkeit bestehen, das Gute, das Hoffnungsvolle zu unterstützen. Sonst muß das Theater im Moment der Revolution aufhören. Nach Paradise now hätte sonst das Theater aufhören müssen. Es gibt einen Satz von Berdaev: „Das Problem des Künstlers ist es, das Gute so interessant zu machen wie das Schlechte.“ Wir wollen im Living schon seit dreißig Jahren ein Stück über das Schöne machen, ohne über das Schlechte und Böse reden zu müssen. Sobald wir am Ende von Paradise vom Guten sprachen und gemeinsam mit dem Publikum auf die Straße gingen, wurden wir verhaftet. Das Gute hat nicht sehr lange gedauert. Das Positive gilt als unakzeptabel. Es gehört den Hypokriten, der Sonntagschule.

Fühlen Sie sich als ein Erbe Piscators in der Weiterentwicklung des totalen Theaters?

Piscator hat uns zwei Sachen beigebracht. Erstens das Engagement: Man muß etwas zu sagen haben, wenn man auf der Bühne steht. Zweitens das totale Theater. Das Living Theatre hat natürlich andere Aspekte der Allumfassenheit des Theaters erforscht und praktiziert als Piscator. Nicht die technischen Medien wie Film, Musik, Licht, sondern die totale Präsenz des Theaters war und ist für uns wichtig. Jahrelang haben wir nur außerhalb des offiziellen Theaters gespielt: in Schulen, Fabriken, Krankenhäusern, Gefängnissen. Eine Suche, die eher Grotowski als Piscator ähnelt, eine mehr nach innen als nach außen gerichtete...

Julian sagte in Paradise: „Das Theater ist auf der Straße!“ Wir gingen nackt raus, und es war aus! Wir landeten natürlich im Kommissariat, und ich sagte zu dem Wachmeister, „wir spielen jetzt Theater miteinander“. Er sagte: „Nein, das tun wir nicht!“ Ich antwortete: „Du spielst jetzt mit in meinem Stück !“ Und er wieder: „Zum Teufel, Du spielst in meinem Stück!“ Und dann sagte ich: „Okay, in Deinem, aber im Theater!“ Jedes Mal, wenn ich mit einem Polizisten diskutierte, ob wir nun Theater machen oder nicht, war es für mich wunderbar! Manchmal werden sie wütend dabei, manchmal lachen sie und manchmal machen sie sogar mit.