Über das Ende der Moderne hinaus

Dieter Schnebel und Achim Freyer an der Hamburgischen Staatsoper  ■ Von Frieder Reininghaus

In der Produktion des Komponisten Dieter Schnebel waltet höhere Ordnung. Oft wiesen seine der Öffentlichkeit in den letzten dreißig Jahren vorgestellten Werk-Stücke und Stück-Werke beim ersten Auftauchen in eine unerwartetet Richtung des Experimentierens. Später erschienen sie eingebunden in ein Konzept, das sich erst im Produktionsprozeß selbst klarer ausgeformt haben dürfte. Domestiziert auch durch die Systematik des Abtastens und Durchprobierens. 1983 näherte sich Schnebel dem Zauberort Heimat an (er stammt aus Lahr im Schwarzwald). Später fügte sich auch dieser Gang zu den Geschichten der Kindheit als ein Teil der (noch nicht abgeschlossenen) ökologischen Musik in den großen Plan, der bei Schnebel zugleich mit dem Erproben neuer akustischer Möglichkeiten oder unkonventioneller Sichtweisen für Altbekanntes auch das Unterrichten und Einweisen in Traditionen vorsieht: Heraus kam Jowaegerli.

Schnebel bediente sich dazu eines Textes aus den 1803 erschienenen Alemannischen Gedichten seines badischen Landsmanns Johann Peter Hebel. Das Mundartgedicht von der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz wurde zum Rahmen für drei Binnenerzählungen aus Hebels Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Auf die Funkfassung des Jowaegerli (1983) folgte die Realisierung als Szenische Kantate bei den Donaueschinger Musiktagen (1984): zur eher diskreten Musique d'ameublement zogen zwei leibhaftige Schwarzwälder Kühe einen hölzernen Bauernkarren in die Mehrzweckhalle.

Von solcher Anspielung auf die süddeutsche Idylle findet sich bei Achim Freyers Realisierung an der Hamburgischen Staatsoper fast nichts mehr. Dort zeigt sich eine quadratische Fläche, steil nach hinten links ansteigend, vor der Sprecher, Sänger und neun Instrumentalisten postiert sind und auf der sich Körperteile und Symbole bewegen: Kopf und Oberkörper, Beine und eine Mumie, Puppe und Kegel, Rad und Ball. Scheinbar beziehungslos agieren sie zu den Erzählungen vom Kannitverstan, vom Wasserträger und vom Unverhofften Wiedersehn. Freilich bleibt der Zusammenhang der Freyerschen Bild- und Bewegungsabläufe zu den Abschnitten der Schnebelschen Komposition durchaus erkennbar, wenn etwa das Liebespaar im Hintergrund sich langsam abtastet oder die Totenköpfe vorbeidefilieren. In der Mitte der kaum bespielbaren Fläche ein langsam schmelzender Eisblock und einer, der große Streichhözer hastig anzündet und rasch wieder ausbläst, bis er im Berg der abgebrannten Hölzer fast versinkt. Am Rand, dem Seil entlang, arbeiten sich drei alemannische Landleute nach oben: als hieße der Obertitel des Unternehmens nicht Vergänglichkeit sondern Vergeblichkeit.

In Hamburg wurde Jowaegerli mit einem Auftragswerk der Staatsoper gekoppelt: Schnebel setzte Musik zu Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili; nach der bereits bei Jowaegerli praktizierten Methode arrangierte Freyer Bilder und Bewegungen dazu. Nach der Annäherung an die entfremdete (und verfremdete) Heimat erweist sich Chili als Gegenstück: Als Abarbeitung an den so aktuellen Schrecken, die Katastrophen in fernen Ländern auslösen können. Die Partitur scheut sich nicht, die spannende Erzählung von jenem Liebespaar, das durch die Naturkatastrophe der drohenden Hinrichtung entgeht, mit illustrativer Musik zu versehen: Der rezitierte Text erhält aufs Neue den Vorrang. Das Katastrophische der Kleistschen Geschichte hat seine Entsprechung freilich nicht in tumultartigen Klängen, sondern in der Aufhebung der festen rhythmischen Strukturen: Der Schrecken findet leise Töne.

Achim Freyer bot dagegen gewaltigere und gewaltförmigere Symbolbilder auf der schrägen Ebene an. Die Tendenz dieses Gesamtkunstwerkers zu Redundanzen und Selbstzitaten bleibt dennoch unübersehbar: die Assoziationen zum Stichwort „Strick“ (und „Verstrickung“) haben sich in den letzten zwanzig Jahren ebenso verbraucht wie das Stühlerücken der Gesellschaft auf der Schräge zur Versinnbildlichung der Zwanghaftigkeit.

Dieter Schnebel kann und will in Produktionen wie dieser den Theologen, der indirekt predigt, und den Pädagogen, der zu neuen Sicht- und Hörweisen erziehen will, nicht verleugnen. Aber er bleibt deshalb doch ein bemerkenswerter Komponist: einer mit großem Plan und langem Atem über das Ende der Moderne hinaus.

Dieter Schnebel: Vergänglichkeit (Jowaegerli und Chili) , nach Texten von Johann Peter Hebel und Heinrich von Kleist, Regie: Achim Freyer, Bühne: Maria-Elena Amos, mit Renate Spingler, Ursula Kunz, Roderic Keating, Ude Krekow, musikalische Leitung: Marc Albrecht. Weitere Aufführungen: täglich 16.-20. Mai.