Atomzunft zwischen Pioniergeist und Wehleidigkeit

Bei der Jahrestagung Kerntechnik wird der erhoffte atomare Frühling herbeigebetet/ Stromkonzerne in der Rolle der unsicheren Kantonisten/ „Ungesunder Menschenverstand“ und „Irrationalität“ blieben außen vor  ■ Aus Bonn Gerd Rosenkranz

Eigentlich hätte nach einer trübsinnigen Periode endlich wieder eitel Sonnenschein herrschen können. Keine Reaktorkatastrophe, kein Atomschieber-Skandal, nicht mal die überstürzte Flucht aus einem „unverzichtbaren“ Großprojekt warf im Vorfeld des diesjährigen Familientreffens der deutschen Atomzunft Schatten über die tausendköpfige Versammlung im Bonner Glaspalast „maritim“. Dazu der neue Markt im Osten, das Treibhaus Erde als Antreiber für eine „Neubewertung der friedlichen Nutzung der Kernenergie“ und eine erfolgreich in die SPD gepflanzte Geisterdebatte über die Nürnberger Ausstiegsbeschlüsse von 1986. Was will man mehr?

Doch die freundlichere Zukunft erhitzt vorerst die Gemüter mehr, als sie sie erwärmt. Die Tagung sollte diesesmal Aufbruch und Offensive signalisieren. Das Vorhaben gelang höchstens partiell.

Wie ein Trauma liegen nach wie vor die abgebrochenen Katastrophenprojekte von Hamm, Wackersdorf und Kalkar über der Branche. Spätestens seit dem WAA-Debakel gelten die in Sachen Atomenergie erfrischend unideologischen Stromversorger, besonders die, die ihre Kohle mit der Kohle verdienen, als unsichere Kantonisten. Friedhelm Gieske (RWE-Chef) und Klaus Piltz (als Veba-Vorstand Nachfolger Bennigsens) stehen sogar unter dem bösen Verdacht, mit ihrer Strategie, zwei neue AKWs im Osten von der Zustimmung der SPD abhängig zu machen, ihre eigene Abneigung gegen teure, AKW-Neubauten kaschieren zu wollen. Nach dem Motto: Wenn die SPD nicht will, müssen wir nicht. In Wirklichkeit, klagen die Atom-Verehrer hinter vorgehaltener Hand, wolle zumindest RWE-Gieske im Osten am liebsten mit der Braunkohle Geld verdienen — so wie im Westen.

So lautstark, wie das nukleare Propaganda-Fachblatt 'atomwirtschaft‘ in seiner aktuellen Ausgabe den Stromversorgern die Leviten liest, wurde in Bonn allerdings nie der Hausfriede gestört. „Nach langer Beständigkeit“ habe die Wirtschaft bei „den großen Ruinen“ Wackersdorf, Hamm und Kalkar „jeweils sehr unvermittelt das Handtuch geworfen“. Heute „den notwendigen Bau neuer Kernkraftwerke unabdingbar von einem politischen Konsens abhängig machen zu wollen kommt der Absicht gleich, diesen Bau zu unterlassen“, schimpft der Kommentator. Auf die SPD zu warten und „bis dahin alles Unkonventionelle zu unterlassen heißt, den technischen Stand eines Industrielandes aufs Spiel zu setzen“ .

So oder ähnlich mag das auch Siemens/KWU-Chef Heinrich von Pierer sehen, der bei der Jahresversammlung meinte, die Erneuerung der Energieinfrastruktur in den neuen Ländern — selbstredend mit Neu-AKWs — lasse sich „nicht in Filzpantoffeln und mit Zipfelmütze vor dem Fernseher lösen“. Statt „wehleidigem Egoismus und introvertiertem Kleinmut“ verlangte der KWU-Chef „Mut, Einfallsreichtum, Pioniergeist — und natürlich Geld“. Ob sich die nord- und westdeutschen Stromkonzerne angesprochen fühlen sollten, sagte er nicht.

Ansonsten setzte von Pierer in seinem Referat jene Strategie um, die sein Siemens-Unterling tags zuvor in einem Fachvortrag entwickelt hatte. Als Akzeptanz-Spritze für die nach wie vor störrisch atomkritische Öffentlichkeit sei eine Strategie aussichtslos, die auf „revolutionäre Entwicklungen“ bei der weiteren Verbesserung der Reaktorsicherheit setze. Daran glaube in der Bevölkerung, unabhängig vom Wahrheitsgehalt, eh niemand mehr. Tatsächlich habe ein möglicher Erfolg im „Akzeptanz-Rollenspiel“ mit Technik wenig zu tun, so Gremms Credo. Der Siemens-Mann nannte den Energiebedarf der dritten Welt, das Klimaproblem und die Vereinheitlichung der Sicherheitsstandards in Ost- und Westeuropa als zentrale Argumente zur Aushebelung der festgefahrenen öffentlichen Meinung. Von Pierer — „Der Reaktorunfall von Tschernobyl war und ist ein rein regionales Ereignis, allerdings mit internationalen Folgen“ — erinnerte denn auch prompt an Bevölkerungsexplosion und Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd und den berechtigten Energiehunger der armen Länder. Und: „Es ist ein Naturgesetz, daß sich Ungleichgewichte irgendwann ausgleichen. Wenn wir diesen Ausgleichsprozeß nicht lenken, wird er zerstörerische Formen annehmen und sich auch gegen uns wenden.“ Für Osteuropa verlangte von Pierer einen „Energie-Marshallplan“ mit West-AKWs oder West-Sicherheitstechnik. Finanziert werden könnten die Atomexporte über Stromlieferungen aus diesen Anlagen. Daraus wiederum würden sich „neue Impulse zur Ausdehnung des westlichen Verbundnetzes nach Osten zwingend ergeben“.

Forschungsminister Riesenhuber stimmte vor der versammelten Gemeinde in den Chor vom „Energiepolitischen Umbruch“ ein, trug Hochtemperaturreaktor, Brüter und WAA griesgrämig noch einmal zu Grabe — „wir haben unser Ziel nicht erreicht“ — und beschwor die Stromwirtschaft, künftig erheblich kräftiger in die Entwicklung neuer Reaktorkonzepte zu investieren. „Kernkraft und Kohle und rationelle Energieverwendung“, lautet des Ministers Rezept für die “größte Herausforderung des Jahrzehnts“ im Osten. Dort müßten die „Partner ertüchtigt“ werden, und zwar durch Nachrüstung der maroden Meiler oder Stillegung und Neubau. Hierzulande, meinte der Minister, sei der Konsens mit der SPD „nicht gewiß, aber möglich“. Überhaupt der „energiepolitische Konsens“. Er wurde in Bonn über alle Maßen strapaziert. Hergestellt werden soll er mit jenen, denen „rationales Denken, Vernunft und gesunder Menschenverstand“ fremd sind und die stattdessen auf „eifernde Emotionalisierung“ setzen, so jedenfalls sieht der Präsident des Atomforums, Claus Berke, die Gegner der Atomenergie von Robert Jungk bis Klaus Traube. Doch der „ungesunde Menschenverstand“, die „Irrationalität“ und die „Emotionalität“ blieben im „maritim“ gänzlich außen vor. Nicht mal vor der Tür rüttelten in diesem Jahr Anti-AKW-Trommler an der zuweilen geifernden Selbstgerechtigkeit der Atom-Freunde. Auch dies, meinten Teilnehmer, sei ein Zeichen, daß man sich auf einem guten Weg befinde, möglicherweise dem schwedischen. Dort waren kürzlich frühere Ausstiegsbeschlüsse im Konsens dreier großer Parteien gekippt worden. Noch ist nicht ausgemacht, ob sich diese Geschichte hierzulande überhaupt wiederholt — es sei denn als Farce.