Schuldig war man sowieso

Eine sechsteilige Reihe über den deutschen Überfall auf die Sowjetunion: „Steh auf, es ist Krieg!“  ■ Von Manfred Loimeier

Joseph Goebbels vermerkt am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, in sein Tagebuch, mittags zwei Stunden tiefen, gesunden Schlafes gefunden zu haben. Doch für die Dörfer in Weißrußland beginnt ein grauenvoller Alltag: Im Umkreis von zwei Kilometern beiderseits einer Bahnlinie werden entlang der ganzen Strecke alle Dörfer eingeäschert, wird die Gegend entvölkert, gilt jeder im Sperrbezirk angetroffene Zivilist als Partisan.

Morgens jagen Soldaten die Menschen aus ihren Betten und treiben sie auf den Dorfplatz. Nackt, aus dem Schlaf gerissen, haben die Einheimischen zu warten, bis die kräftigsten jungen Männer des Ortes Gruben ausgehoben haben. Dann werden alle vorgefundenen Dorfbewohner erschossen. In 628 Dörfern werden solche Exekutionen durchgeführt. Über eines dieser Dörfer notiert ein ordentlicher deutscher Buchhalter: „203 Männer, 273 Frauen und 130 Kinder wurden von 9 bis 18 Uhr vernichtet, bei einem Materialaufwand von 786 Schuß Gewehr und 2496 Schuß Pistole.“

Steh auf, es ist Krieg! ist eine sechsteilige Dokumentationsreihe des Südwestfunks (SWF), die ab 19. Mai jeweils sonntags in Südwest3 (17 Uhr), N3 (21 Uhr), und West3 (14 Uhr), ab 4. Juli in Hessen3 und voraussichtlich noch im Sommer in Bayern3 zu sehen ist. Ebenfalls noch in diesem Jahr wird die Serie im sowjetischen Fernsehen gezeigt, das mit der Filmgesellschaft Nowosti als Koproduzent aufgetreten ist.

Hartmut Kaminski, der Regisseur dieses Mehrteilers, der bereits mit Berichten wie Stumme Schreie oder Die Kinder von Himmlerstadt Aufsehen erregte und Filmpreise erntete, war der erste westliche Journalist, der schon vor Perestroika und Glasnost, schon weit vor der Öffnung der Grenzen zwischen den deutschen Staaten die Erlaubnis bekam, in den Archiven weißrussischer Dörfer zu stöbern, Material zu sichten und sowjetische Filme aus der betreffenden Zeit zu verwenden. So bekam Hartmut Kaminski sogar vom KGB Filmmaterial zur Verfügung gestellt, das bis dahin nicht freigegeben worden war.

Zum einen ist es dort noch immer tabuisiert, über die Zwangsarbeit unter den deutschen Besatzern zu sprechen, zum anderen gibt es das unrühmliche Thema der Kollaboration zu erörtern, zum dritten galt lange die von Stalin ausgegebene Devise, wonach das Leid des russischen Volkes nicht zu filmen sei. Das erleichtert die Unterscheidung des Materials: Propagandamaterial ist unschwer zu erkennen, Aufnahmen vom Bombardement der Städte können dagegen nur von deutschen Kameramännern stammen.

Aufklären sollen die sechs Teile dieser Serie, die vielleicht auf Videocassette zugänglich gemacht wird, auch über die deutsche Mär vom Präventivkrieg: Augenzeugen berichten, wie konsequent seit der Besetzung Polens entlang der Grenze zur Sowjetunion Flugplätze gebaut und als Kuhweiden getarnt wurden. Akten, die sich in der Staatsbibliothek Berlin fanden, zeigen, wie gründlich von allen Regionen, von allen Städten in der Sowjetunmion militärgeographische Karten angelegt wurden — mit der empfohlenen Durchmarschroute in gelb: Brücken sind da samt ihrer Taglast eingezeichnet, für Straßen liegen Daten über Niederschläge als Regen oder Schnee, liegen Zeichungen über Glatteis-, Frost- oder Nebelgebiete vor.

Der Freiburger Historiker Wolfram Wette bestätigt denn auch, daß die hier erstmals vorgestellten Unterlagen einzigartig in der deutschen Geschichtsschreibung sind, die sich bisher wenig um Weißrußland kümmerte. Rolf-Dieter Müller, ebenso ein Historiker aus Freiburg, ergänzt einen entscheidenden Aspekt: Wichtig in der Filmreihe Steh auf, es ist Krieg! sind nicht nur die Angaben über militärische Operationen, sondern die Gespräche mit inzwischen zum Teil verstorbenen Zeitgenossen, die zu den Kommentaren der deutschen Wehrmachtsoldaten die Perspektive der leidenden Menschen ergänzen.

Fotografien, die Hartmut Kaminski unter den erbeuteten Gepäckstücken von deutschen Soldaten fand, beweisen den Stolz, mit dem sich die „deutschen Helden“ in der Partisanenbekämpfung bewährten. Frontkameramann Bergmann, der in der Wehrmacht das Vorgehen der Deutschen filmte und der später mit der DEFA unter Regie von Konrad Wolf 18 Spielfilme drehte, wird dazu nur sagen, daß er es damals oft bedauert habe, in den schönen russischen Wäldern nicht einfach spazieren gehen zu können.

Von der bösen Vergangenheit wollte man auch bei der ARD nichts hören und hat die für das 1. Programm bereits vorgesehene und mit 350.000 Mark äußerst kostengünstig produzierte Reihe in die dritten Programme abgeschoben — ohne überhaupt auch nur Ausschnitte daraus gesehen zu haben; Begründung: Es sei in lezter Zeit ohnehin soviel von Krieg und Vernichtung über den Bildschirm geflimmert. Das „Geschichtsbewußtsein der ARD-Chefredakteure wage ich in Zweifel zu ziehen“, meint dazu Cornelia Freidank vom SWF, und der zuständige Redakteur Gustav-Adolf Bähr winkt resigniert ab: „Sie ahnen ja nicht, was da oftmals zusammensitzt.“ Aber einen ausführlichen Beitrag zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion wird es, wenn auch nicht in der ARD, dennoch für die ZuschauerInnen in der „ersten Reihe“ geben: Das ZDF zeigt, beginnend am 16. Juni, Der verdammte Krieg. Das Unternehmen Barbarossa.