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TAMIL NADU EXPRESS

■ 36 Stunden ist die Eisenbahn von Madras nach Delhi unterwegs

36 Stunden ist die Eisenbahn von Madras nach Delhi unterwegs

VONWALTERKELLER

Bahnsteig Nr. 1 der „Central Station“, einem der beiden Bahnhöfe der südindischen Metropole Madras. Der „Tamil Nadu Express“ wird gerade bereit gestellt. Er soll mehrere tausend Fahrgäste innerhalb der nächsten 36 Stunden nach Delhi bringen. Es ist eine der längsten Fahrten, die ein Reisender in Indien mit der Bahn unternehmen kann. Fast 3.000 Kilometer.

Der Bahnsteig gleicht einem Taubenschlag. Die Fahrgäste suchen ihre Sitz- und Schlafplätze in den vierzig Waggons, die ihnen ein Computer zugewiesen hat. Hinzu gesellen sich die vielen Freunde und Verwandten, die ihre Lieben verabschieden wollen. Und dann natürlich die unzähligen „Porter“, in rote Jacken gekleidete Träger, die die teilweise überdimensionalen Gepäckstücke der Fahrgäste für einige Rupien in das vorgebuchte Abteil schleppen.

Verkäufer versuchen lautstark per Bauchladen, Schubkarre oder einem fahrbaren Stand, all das an den Fahrgast zu bringen, was die lange Reise versüßt, verschönt oder verkürzt. Getränke, Eßbares oder Zeitungen und Zeitschriften, von denen es in Indien mehr als 20.000 in über dreißig verschiedenen Sprachen gibt.

Pünktlich um 21 Uhr setzt sich der lange Zug in Bewegung. Nach nur zwei Stopps erreicht der „Tamil Nadu Express“ am nächsten Morgen gegen 7.30 Uhr einen kleinen Ort im Bundesstaat Andhra Pradesh. Auf dem Bahnsteig bieten Verkäufer Frühstück für die Fahrgäste an: Doosais, die so aussehen wie dünne Crêpes, und Pooris, in Öl gebackene Mehltaschen. Aber auch im Zug ist während der gesamten Fahrt für das leibliche Wohl der Fahrgäste gesorgt. Ich bekomme Kaffee und Omelett durch das Bahnpersonal quasi am Bett serviert, einer Pritsche direkt unter der Decke des Waggons. Tagsüber dient sie als Gepäckablage.

Nach einer halben Stunde Aufenthalt geht die Fahrt weiter über Nagpur im Bundesstaat Maharashtra. Bhopal, die Hauptstadt des flächenmäßig größten indischen Bundesstaates, Madhya Pradesh, erreicht der Zug nach weiteren 15 Stunden gegen 22.30 Uhr. Mit 443.000 Quadratkilometern ist MP, wie der Staat kurz genannt wird, etwa eineinhalbmal so groß wie das „neue“ Deutschland. Oberflächlich betrachtet, gleicht der Bahnhof in Bhopal denen anderer indischer Großstädte. Hier gibt es allerdings noch mehr Bettler als anderswo. Viele sind blind. Sie sitzen auf den Bahnsteigen oder lassen sich von einem Familienangehörigen führen. Einen Arm halten sie ausgestreckt, um Geld zu erbitten. „Viele sind Opfer dieser schrecklichen Katastrophe“, erzählt mir ein Fahrgast, mit dem ich mich schon zuvor im Zug unterhalten hatte.

Mit der schrecklichen Katastrophe sind jene Ereignisse des 3. Dezember 1984 gemeint, die die Welt bereits wieder vergessen hat. Damals starben etwa 3.500 Menschen einen qualvollen Tod. 400.000 wurden verletzt, weil Giftgas im Werk des amerikanischen Unternehmens „Union Carbide“ ausgetreten war. Andere, die überlebt haben, klagen über Atemwegserkrankungen, Bewußtlosigkeit oder Magen-Darm- Störungen. Im Gebiet von Bhopal kommt es seit dem Unglück vermehrt zu Frühgeburten und vorgeburtlichen Wachstumsstörungen. Die Geschichte der Tragödie von Bhopal ist die Geschichte vieler Ablenkungs- und Vernebelungsmanöver seitens der „Union Carbide“, eine Geschichte von Lug und Trug. Die Gerichtsverfahren laufen weiter, der Großteil der Opfer von Bhopal wird weiter auf Gerechtigkeit warten müssen.

Umgerechnet drei Milliarden Mark Tourismuseinnahmen

Eine weitere Nacht auf der Schlafpritsche steht mir bevor — viel Zeit, um nachzudenken. Zum Beispiel über den Tourismus, dessen Förderung seit einigen Jahren im Rahmen der indischen Wirtschaftsplanung an vorderster Stelle steht. 1,3 Millionen ausländische Touristen — davon etwa 90.000 Deutsche — haben dem Land 1989 umgerechnet fast drei Milliarden Mark eingebracht. Aber in einigen Touristenzentren protestieren Einheimische bereits gegen die hohen, teilweise unkontrollierten Wachstumsraten der letzten Jahre mit den vielen negativen Begleiterscheinungen. Immer deutlicher werden die harten Gegensätze der Gesellschaft: im Überfluß lebende Inder auf der einen und die Millionen von Armen und Dahinvegetierenden auf der anderen Seite. Ganze Familien leben in den großen Bahnhofshallen, schlafen auf Bahnsteigen oder auf der Straße. Die Armen werden von den meisten Reichen verachtet, die in Indien die wirtschaftlich, technologisch und militärisch aufstrebende südasiatische Supermacht sehen, die Atomkraftwerke und Mittelstreckenraketen baut. Es sind solche Gegensätze, die zu Spannungen im Land führen. Viele Jugendliche versuchen durch Drogenkonsum die Widersprüche in der Gesellschaft zu vergessen. Alkoholismus und Gewalt in den Familien sind die Resultate einer ausweglosen Situation.

Der riesige „Schmelztiegel“ der Kulturen, der Indien für viele Besucher so interessant macht, wird immer explosiver. Tumulte brechen bei der geringsten Provokation aus. Es kommt immer häufiger zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den vielen Volks- oder Religionsgemeinschaften. So etwa während der vergangenen Monate, als es zu den schlimmsten Gewalttaten zwischen Hindus und Moslems seit 1947 kam. Die wochenlangen Ausschreitungen um eine Moschee in Ayodhya im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, andere innenpolitische Wirren und die anhaltenden Unruhen im Bundesstaat Kaschmir, bisher auf dem Pflichtprogramm aller Indientouristen, haben das Image Indiens im Ausland rapide sinken lassen.

Der Golfkrieg hat den indischen Touristenplanern nun endgültig einen Streich durch ihre optimistische Rechnung gemacht. Jetzt bleiben die potentiellen Besucher fern, viele Reisen wurden storniert, die Hotels stehen leer. Das „Visit India Year 1991“, das Indien endgültig einen prominenten Platz auf der Tourismuskarte einbringen sollte, erweist sich bereits zu Beginn als ein Flop. Schon jetzt steht fest, daß im „Jahr des Tourismus“ weit weniger Ausländer kommen werden als in den Jahren zuvor. „Wir erleben derzeit die schlimmste Periode seit zehn Jahren“, wird in der Tourismusindustrie geklagt. Angestrebt wurden bis Mitte der neunziger Jahre zwei Millionen ausländische Touristen. Jetzt will man versuchen, die sinkenden Einnahmen aus dem Geschäft mit den Ausländern zumindest teilweise mit den jährlich fünfzig Millionen einheimischen Touristen und Pilgern zu kompensieren, die sich Urlaub im eigenen Land leisten können oder alljährlich zu den über das gesamte Land verteilten heiligen Tempelstätten reisen.

Die verlangsamte Fahrt des „Tamil Nadu Express“ kündigt die baldige Ankunft in Neu-Delhi an. Noch wirkt alles ländlich. Auf den brachliegenden Feldern hocken im Abstand von wenigen Metern ungeniert Männer nebeneinander, die ihre morgendliche Notdurft verrichten.

Die letzten Kilometer vor der Hauptstadt der indischen Union sind von großen Fabriken bestimmt, in deren unmittelbarer Nähe verslumte Gebiete liegen. Dort rekrutieren die Industriebetriebe ihre ArbeiterInnen. Aus riesigen Schornsteinen quillt dicker, schwarzer Rauch in den trüben Himmel. Delhi ist die Stadt Indiens mit der stärksten Luftverschmutzung. Und dazu trägt nicht nur die Industrie bei. Einen gehörigen Anteil hat auch der immer stärker wachsende Verkehr. Über eine Million Privatfahrzeuge, schwarze Rauchwolken ausstoßende Busse und Lastwagen sowie unzählige Motorrikschas bahnen sich ihren Weg durch die permanent verstopften Straßen der Hauptstadt. 5.000 Busse befördern allein in Delhi täglich sechs Millionen Menschen. Die Luftverschmutzung erreicht in vielen Gebieten Höhen, die 300 Prozent über den erlaubten Grenzwerten liegen. Und dazu zählt auch die Umgebung des Hauptbahnhofs von Neu- Delhi, in dem der Zug soeben zum Stehen gekommen ist. 36 Stunden Fahrzeit liegen hinter uns. Wir hatten auf dieser fast 3.000 Kilometer langen Strecke zwei Stunden Verspätung.

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