: SU-Vizepremier: Von Reagan lernen!
■ Gorbatschow verkündet Streikverbot in einer Reihe weiterer Schlüsselindustrien/ Drohungen gegenüber Piloten/ Pawlow kündigt gemeinsame Maßnahmen gegen Unionsrepubliken an
Moskau (afp/taz) — Der für die Ökonomie zuständige sowjetische Vizepremier Wladimir Schtscherbakow kündigte am Donnerstag an, künftig würde jedermann hart bestraft werden, der den Verbotsdekreten zum Trotz einen Streik organisiere oder an ihm teilnehme. Die Drohung des Vize richtet sich konkret gegen den sowjetischen Piloten und Fluglotsenverband, der für die nächste Woche Kampfmaßnahmen angekündigt hat. „Ein Streik im Bereich der Luftfahrt“, so Schtscherbakow, „ist eine direkte Bedrohung für das Volk“. Schtscherbakow strafte die weitverbreitete Ansicht Lügen, nach der die sowjetische Regierungsbürokratie lernunfähig ist. Er habe die Taktik des früheren Präsidenten Reagan anläßlich des Piloten-Streiks in den USA studiert und daraus seine Schlußfolgerungen gezogen. Bekanntlich hatte Reagan streikende Piloten diszipliniert und Militärpersonal eingesetzt.
Gorbatschow reichen dagegen die einheimischen Erfahrungen. Er verbot per Dekret Streiks bis zum Jahresende in einer Reihe von weiteren Schlüsselindustrien. Herrschte bislang schon Streikverbot unter anderem im Bergbau, der Elektrizitätswirtschaft und dem Eisenbahnwesen, so wird jetzt das Verbot auf die Öl-, Gas-, Chemie-, und Metallindustrie ausgeweitet. Gorbatschow beschwor einen dramatischen Rückgang der Inlandsproduktion und sagte, weitere Streiks könnten Millionen von Menschen die Arbeit kosten. Auch der Präsident drohte mit dem Strafgesetzbuch, lockte aber gleichzeitig mit „beträchtlichen Lohnerhöhungen“ in den Schlüsselindustrien und der Aussicht, daß die Betriebe zehn Prozent ihrer Produktion ins In- und Ausland frei verkaufen könnten — einer Maßnahme, die hinter den Ergebnissen des Bergarbeiterstreiks weit zurückbleibt.
Zeitgleich mit diesen Ankündigungen gab Ministerpräsident Pawlow bekannt, 13 der 15 Unionsrepubliken hätten sich auf konkrete Schritte eines Antikrisenprogramms geeinigt, die nächsten Montag bekanntgegeben werden. Nach Pawlow kann sich die sowjetische Energieproduktion (und deren verstärkter Verkauf in den Westen) „zu einer Lokomotive entwickeln, die unsere Wirtschaft an die westlichen Wirtschaften heranführt“. Auf diplomatischer Ebene soll diesem Ziel ein Besuch dienen, den Schtscherbakow und Jewgeni Primakow der Siebener-Gruppe reichster Industrienationen (G-7) abstatten werden.
Ob Gorbatschows Verbote und Drohungen mehr Wirksamkeit zeigen als während des Bergarbeiterstreiks, ist sehr ungewiß. Der Präsident muß fürchten, daß gerade das Beispiel der Bergarbeiter zündet. Deshalb auch seine Versicherung, er befinde sich in vollem Einklang mit der gemeinsamen Erklärung der Sowjetregierung mit den neun Sowjetrepubliken vom 23. April. Kern dieser Erklärung war die Verständigung zwischen Gorbatschow und Jelzin, ihre praktische Konsequenz war das Ende des Bergarbeiterstreiks. Christian Semler
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