: Der wärmste Orangensaft
Das Filmfestival in Cannes ist zu Ende/ Ein Rückblick auf die wichtigsten Filme der letzten Festivaltage: „Barton Fink“ von den Coen-Brüdern, „Van Gogh“ von Maurice Pialat, Angelopoulos und Ausschnitte aus Greenaways Shakespeare-Bearbeitung ■ Aus Cannes Thierry Chervel
Spike Lee hätte die Goldene Palme verdient, für Jungle Fever. Oder Jacques Rivette für La Belle Noiseuse. Oder Kieslowski, zwar nicht unbedingt für La double vie de Véronique, aber weil er für den Kurzen Film über das Töten vor drei Jahren nur einen lächerlichen Trostpreis bekam. Und der Jurypräsident, Roman Polanski, ist Pole. Aber vielleicht hat auch irgendein ganz anderer Film den Preis bekommen: Der aufgeklärte Kinogeher weiß so oder so mehr als dieser Artikel, denn die Entscheidung fiel nach Redaktionsschluß. Hier soll nur über ein paar Filme berichtet werden, die am Wochenende liefen.
Peter Greenaway wäre ein Favorit für den Preis gewesen — wenn sein Film nur rechtzeitig fertig geworden wäre. Er präsentierte in Cannes nur die ersten 20 Minuten seiner Verfilmung von Shakespeares The Tempest, den Prolog zur eigentlichen Handlung. Ein Sturm aus ineinandergeschachtelten, ein-, aus- und überblendeten, oft mehrfach geteilten Bildern. Es gab in diesem Festival mehrere Regisseure, die mit Bildern und Erzähltechniken experimentierten, Greenaway aber ist der einzige, der ohne Scheu mit den allerneuesten Technologien arbeitet. Ihn interessierten, so der Regisseur auf der Pressekonferenz, „neue Arten, das Material zu organisieren“, und er habe versucht, fortgeschrittene Techniken des Fernsehens auf die Leinwand zu übertragen. Sein Film wird ein riesengroßer Videoclip fürs Kino. Es ist auffällig, daß gestandene Regisseure wie Greenaway oder Godard oder Wenders der High Definition-Zukunft des Kinos wagemutiger ins Gesicht sehen als jüngere Regisseure.
Die anderen drei abschließenden Wettbewerbsfilme, Joel und Ethan Coens Barton Fink, Theo Angelopoulos' Le pas suspendu de la cigogne und Maurice Pialats Van Gogh, sind noch richtig Kino. Der wunderbare John Turturro spielt den jungen New Yorker Theaterautor Barton Fink, der 1941 von einem Hollywood-Studio eingekauft wird, um Drehbücher zu schreiben. Man erwartet eine Satire auf das Film-Busineß. Es ist auch eine, aber anders, als man erwartet. Los Angeles bestätigt selbstverständlich alle Ängste, die ein New Yorker nur haben kann. Es ist der reine Horror. Nur Finks Hotelnachbar ist really nice. Gerade er aber, so stellt sich heraus, hat die Eigenart, Leute, die ihm lästig werden, zu tranchieren.
Angelopoulos' neuer Film erinnert an das Kino Antonionis — nicht nur weil zum ersten Mal seit Antonionis La Notte (1960) Jeanne Moreau und Marcello Mastroianni wieder gemeinsam vor der Kamera stehen. Auch der Plot könnte von Antonioni sein: Ein Politiker verschwindet, ein Journalist kommt ihm nach Jahren auf die Spur, der Politiker verschwindet aufs neue. Antonioni konnte wie kein anderer zeigen, wie zwischen Personen nichts — oder besser: etwas nicht — passiert. Das will Angelopoulos auch. Nur: bei ihm passiert — außer bedeutungsvoll arrangierten Bildern, langsamen Kamerafahrten und einer gewissen Statuarik, ja Triefäugigkeit der Darsteller — tatsächlich nichts. Angelopoulos hat übrigens mit Antonionis langjährigem Drehbuchschreiber zusammengearbeitet: Die Geschichte vom Drachen, die Mastrioanni erzählt, hatte Antonioni verfilmen wollen. Ach, hätte er doch!
Maurice Pialats Van Gogh ist einer der schönsten Filme des Festivals — eine Überraschung für alle, die den christlichen Kitsch von Pialats letztem Film, Sous le soleil de Satan, unerträglich fanden. Van Gogh beschränkt sich auf die drei letzten Monate des Malers in Auvers-sur-Oise. Der Film erspart sich jede genialische Grimasse, van Gogh wird nicht zur Identifikationsfigur fürs Publikum verkleinert. Der Maler steht nicht einmal wirklich im Mittelpunkt des Films, mindestens ebensosehr werden porträtiert: der Doktor Gachet, seine Tochter Marguerite, van Goghs Bruder Theo, dessen Frau, van Goghs Pensionswirtin, ihr Mann, ihre Tochter, der Dorftrottel von Auvers. Sogar van Goghs Zustände und Anwandlungen und sein Selbstmord werden gewissermaßen nebenbei konstatiert. Den relativ hohen Etat seines Films — knapp 20 Millionen Mark — hat Pialat nicht für aufwendige Straßenszenen und pittoreske Schilderungen des Elends genutzt, sondern zur größtmöglichen, auch historischen und ganz unspektakulären Detailtreue. Nichts ist ungewöhnlicher im Kino und darum vornehmer als solcher Verzicht auf Ostentation, wo sie möglich wäre.
Die Goldene Palme für den verbranntesten Croque-Monsieur geht in diesem Jahr an die Brasserie „La Maison du Porto“, der Große Preis der Jury für den wärmsten Orangensaft an die Bar-Tabac „Brunch's Club“. Adieu, Cannes.
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