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20.000 Tote in Friedenszeiten

In der Sowjetunion ist seit vergangener Woche ein lettischer Dokumentarfilm über Gewalt in der Armee in den Kinos  ■ Von Angelika F. Pfalz

Selbst mitansehen wollte sie ihren Film diesmal nicht: die Lettin Laima Zurgina, Regisseurin von Das sind auch meine Söhne, der beim „FrauenFilmFestival femme totale“ in Dortmund und auf dem Kurzfilmfestival in Oberhausen zum ersten Mal im Ausland zu sehen war. Zu nah sind ihr noch die gezeigten Grausamkeiten, und ihre Erlebnisse mildern das Leid der Eltern während der Dreharbeiten: Das sind auch meine Söhne ist ein Dokument über Quälerei und brutalste Gewalt beim sowjetischen Militär. Tod in der Armee in Friedenszeiten — schätzungsweise 20.000 Wehrpflichtige sind in den vergangenen vier Jahren dort ums Leben gekommen, etwa genauso viele desertiert. Mehr also, als im Krieg gegen Afghanistan gefallen sind.

Zunächst kamen Briefe, erzählt eine Mutter im Film, in denen der gerade Eingezogene sie beruhigte, es sei alles gut. Einige Zeit später deutete er zwischen die Zeilen an, die Älteren machten ihm das Leben schwer. Kurz darauf war er tot. Der Vater kann es immer noch nicht fassen. Sie füllen die Formulare aus, wie es gerade kommt, Herzinsuffizienz, Folgen einer Schädelverletzung oder sonstwas. Die Autopsie jedoch ergab etwas anderes: Rippen gebrochen, Hüften zerschlagen, die Leber voller Blutergüsse.

Die schmale, kleine Frau, das Kopftuch um das zerfurchte Gesicht gebunden, hat sich aus einem Dorf in der Westukraine aufgemacht, ihren toten Sohn zu holen. Das einzige Kind, spät geboren. Streng gläubig, wie sie ist, betont sie immer wieder, daß sie niemandem ein Leid wünsche, das mache ihren Sohn auch nicht wieder lebendig. Mütter weinen vor der Kamera, Väter zeigen ihren Schmerz. Er sitzt auf einer Bank auf dem Friedhof, erinnert sich. Erst schrieb der Junge, es gebe jede Nacht Prügeleien. Er müsse dann die Verletzten ins Krankenhaus, die Toten ins Leichenhaus schaffen. Eines Nachts, so der Vater, brachten sie den Sarg seines Sohnes. Aber es lag nicht sein toter Sohn darin, sondern ein fremder junger Soldat. Die Eltern machten sich auf die Suche, ließen einen anderen Toten wieder ausgraben an einem anderen Ort, doch auch der war nicht ihr Sohn. Ganz bewußt, berichten die Mütter, verwischt die Armee Spuren, schreibt falsche Angaben auf den Totenschein, vertauscht die Leichen, vertuscht die Vorfälle, verschleiert so Hergang und Hintergründe.

Vor allem die Mütter fühlen sich verantwortlich, den Tod ihrer Söhne aufzuklären. Nicht umsonst hat Laima Zurgina den fiktiven Dialog einer Mutter mit einem General zum Rahmen ihres Films gewählt. Ihm stellt die Regisseurin die Fragen, die ihr kein Offizier beantwortet hätte, die bei den führenden Männern der Armee auf völlige Gleichgültigkeit gestoßen wären, da ist sie sich sicher.

Die Mütter versuchen inzwischen, sich zu wehren. Sie haben ein Komitee gegründet, um öffentlich auf die „organisierte Sklaverei“ hinter den Kasernentoren aufmerksam zu machen. Mehrere Tage besetzten sie das Gebäude des Obersten Sowjet in Moskau, um ein Gespräch mit Präsident Gorbatschow zu erzwingen. Erst die Drohung, am Tag der Revolutionsparade auf dem Roten Platz in den Hungerstreik zu treten, hatte Erfolg. Kleine Verbesserungen haben sie erreicht. Im Januar ist immerhin ein Gesetz erlassen worden, das die Versicherung der Eingezogenen regelt.

Um die Ursachen aber zu beheben, sagt ein Vater klipp und klar, genügt es nicht, den Sold anzuheben, damit sich jeder zwei Schachteln Zigaretten mehr kaufen kann. Es sei an der Zeit, die Armee einer grundlegenden Reform zu unterziehen. „Es herrscht das Gesetz des Stärkeren, das sich nur vernichten läßt, wenn man das ganze System vernichtet. Die wirklich starken Menschen kommen um, und viele andere zwingen sich zu schweigen.“ Eine Lehrerin, in deren Klasse zwei Schüler auf diese Weise umgebracht worden sind: „Die Armee hat jede menschliche Würde verloren.“

Nach den Ursachen befragt, weicht die Regisseurin erst einmal aus. Die Probleme einer Gesellschaft verschärften sich auf so engem Raum. Jeder werde heutzutage eingezogen, es gebe sehr viele kriminelle Elemente. Aber: „Es gibt natürlich auch nationale Konflikte.“ Die Führung verfährt nach dem Prinzip, die Wehrpflichtigen immer ans jeweils andere Ende des Sowjetreiches zu schicken. Ungewohntes Klima, eine andere Sprache und eine völlig fremde Kultur — all diese Momente tragen zu Spannungen bei. „Dazu kommt das Geburtengefälle im Land“, führt die Lettin an. „Die mittelasiatischen Wehrpflichtigen sind in der Mehrzahl.“

Gedreht hat Laima Zurgina in Moskau, der Ukraine, in Lettland und im Gebiet Kaliningrad. Die Aufnahmen innerhalb der Kasernen hat ihr ein Moskauer Kollege zur Verfügung gestellt. Ursprünglich ist es ein lettischer Film, für die russische Kopie gab's dann keine staatlichen Gelder mehr. Die Kopie in russischer Sprache haben das Lettische Rote Kreuz, das Lettische Friedenskomitee, die Frauenliga und eine Kolchose finanziert. Das sind auch meine Söhne war im lettischen Fernsehen am Vorabend der Schüsse in Vilnius zu sehen. Und einmal, im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung zum Thema „Frauen und Film“, in Moskau. Offizielle Premiere war am 16.Mai. Nun können sich auch die politische Führung und Vertreter des Verteidigungsministeriums ansehen, was hinter den Mauern der Kasernen passiert und was sie bis jetzt noch zu decken versuchen.

Bei allem Mut, ein solches Tabu mit einem Dokumentarfilm anzurühren, und ihrer Absicht, die Mütter zu unterstützen, hat Laima Zurgina doch Angst: „Ich weiß nicht, welche Auseinandersetzungen mit den Militärs mich erwarten.“

Laima Zurgina hat seit 1968 über 50 Dokumentarfilme gedreht. Im Internationalen Frauenfilmverband ist sie Vorsitzende der baltischen Staaten.

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