: Erinnerung an einen Unfall
■ »Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918-1945« — Eine Ausstellung im Physiologischen Institut der Freien Universität
Vor etwa zwei Jahren hätte im Foyer der Philharmonie ein seriös wirkender Konzertbesucher einen jungen Mann fast verprügelt. Der Büchertisch zwischen den beiden Diskutanten verhinderte Handgreiflichkeiten, war aber zugleich des Streites Ursache. Die zum Kauf angebotenen Bücher begleiteten eine Aktion, die auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Geländes, auf dem die Philharmonie steht, aufmerksam machen wollte: »T4-Aktion« war der Deckname für das Euthanasieprogramm, als Kürzel abgeleitet von der Adresse, wo die Massenvernichtung koordiniert und verwaltet worden war — Tiergartenstraße 4. Von Büchern, die fast 50 Jahre später versuchen, die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus zu schreiben, fühlte sich der Konzertbesucher (ein Arzt?) dermaßen belästigt, daß er ihr sofortiges Verschwinden aus der Kulturhalle forderte.
Etwa dieselbe Auswahl an Büchern liegt zur Zeit am Garderobentisch im Physiologischen Institut ausstellungsbegleitend zum Verkauf aus. Engagierte Medizinstudenten sitzen neben der Kasse, haben ihre Einmaltrinkbecher umweltbewußt mit Namen gekennzeichnet und warten bei Kaffee und Kuchen auf diskussionsfreudige Kommilitonen. Ein Eklat wie in der Philharmonie ist wohl kaum zu erwarten — bislang fielen besonders die Professoren des Physiologischen Instituts eher durch ihr Desinteresse auf.
Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918-1945 war als Ausstellung von den Medizinhistorikern Götz Aly und Christian Poss ursprünglich für das ICC anläßlich des Deutschen Ärztetages 1988 konzipiert. Für die überaus konservativen Ärzteverbände mag es vor drei Jahren ein Tabubruch gewesen sein, Medizin im Nationalsozialismus und ihre Vorgeschichte überhaupt zu problematsieren, halten sie doch immer noch gern am Mythos des unpolitischen Naturwissenschaftlers fest. Zudem war die personelle Kontinuität nach 1945 in diesem Berufsstand so beschaffen, daß eine selbstkritische Aufarbeitung der jüngsten Geschichte wohl allzu vielen Kollegen den professionellen Kopf gekostet hätte.
Da mittlerweile aber die Mehrzahl der persönlich »Betroffenen« bereits in Rente gegangen bzw. gestorben ist, muß es wohl Standesdünkel gewesen sein, der verhinderte, daß man sich mit der Präsentation von Der Wert des Menschen um einen Anschluß an die Faschismusforschung bemühte, wie sie außerhalb der Ärzteschaft praktiziert wird.
Die Ausstellung ist eine auf Stellwand vergrößerte Broschüre mit Porträts vorwiegend Berliner Ärzte und mäßig interessanten, häufig gesehenen Aufnahmen von medizinischem Instrumentarium, historischen Formularen, herausoperierten Gehirnen und von Ärzten vor Karteikästen. Thematisch-chronologisch angeordnet, geht es um die nach 1918 systematische Vernachlässigung bei der Betreuung einzelner Patienten zugunsten des »Volkskörpers«, um die bald vergessenen Reformansätze des Gesundheitswesens in der Weimarer Republik, um die Rassengesetze, um die »Entjudung« der Ärzteschaft und um einzelne Forschungsarbeiten an lebenden oder ermordeten Menschen. Vorwiegend schmücken die weißen Wände jede Menge — für eine Ausstellung überlange — Kommentartexte und Quellen, die sich, stehend inmitten der Pausenhallenatmosphäre, nur mühsam lesen lassen. Die Lektüre stimmt einen erst nachdenklich, dann ärgerlich: die »Aufklärung« suggerierende Schreibweise schafft es auf eine irgendwie dreiste Art und Weise, Geschichte »abzuwickeln« und sie bei der letzten Stellage zu den Nürnberger Ärzteprozessen mit sauberem Schnitt enden zu lassen. Da wird zum Beispiel ein ganzes Kapitel Institutionsgeschichte kommentarlos in ein Klämmerchen gepreßt »Kaiser-Wilhelm-(heute Max- Planck-)Gesellschaft« oder die ungeheuerliche Karriere des Humangenetikers Otmar von Verschuer ins schnell überlesbare Kleingedruckte abgeschoben. Verschuer war unter anderem der Professor von Mengele, ließ sich von diesem mit Organen von ermordeten Patienten versorgen und gründete 1951 das Humangenetische Institut an der Universität Münster. So weit die Informationen des Ausstellungstextes. Daß von Verschuer verfaßte Standardwerke zur Humangenetik nach wie vor zur Ausbildungslektüre vieler Mediziner gehören, bleibt unerwähnt. Ebenso übergangen wird die Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung der Forschungsprojekte an KZ-Häftlingen, Impfversuche, Hepatitis-Experimente usw. Die Tatsache, daß bis heute die Medizin von den Ergebnissen nationalsozialistischer »Grundlagenforschung« zehrt, verschwindet als Information unter dem vermittelten Eindruck, es habe sich um eine verbrecherische Verirrung der ärztlichen Zunft gehandelt. Auf die faktisch-wissenschaftlichen »Profite« nationalsozialistischer Medizin verweist die Ausstellung nur sehr, sehr indirekt, etwa mit dem Hinweis, daß der Georg-Thieme-Verlag 1949 die Ergebnise der Ödemforschung an sowjetischen Kriegsgefangenen von Privatdozent Dr. Heinrich Berning veröffentlichte. Was als Absichtserklärung im Geleitwort etwas vollmundig eine »schmerzhafte Besinnung« genannt wird, erscheint beim genaueren Hinsehen wie nicht viel mehr als die Erinnerung an einen längst verheilten Beinbruch, ein Sportunfall in der Medizingeschichte. Hans-Jürgen Kammler, studentischer Mitinitiator der Ausstellung, erklärt, die Fachschaft habe mit der Ausstellung darauf aufmerksam machen wollen, daß man heute immer noch Medizin studieren könne, ohne sich jemals mit der jüngsten Geschichte des Fachs auseinandersetzen zu müssen. Allein darauf hinzuweisen, wäre eine wichtige Ergänzung bei der »Übernahme« einer Ausstellung der Ärztekammer gewesen. Vielleicht ist überhaupt das Rahmenprogramm mit studentischen Vorträgen zu Themen, die der Fachschaft wichtig erscheinen, und einigen ausgewählten Filmdokumentationen über Medizin im Nationalsozialismus empfehlenswerter als der Besuch der Hauptattraktion. Wie ein übel-zynischer Kommentar zur Ausstellung klebte unter der letzten Stellwand zum Nürnberger Ärztetag ein Hanuta-Abziebildchen, auf dem Alf sagt: »Ich wünsch Dir meinen Durchblick!« Dorothee Wenner
Bis 2. Juni: FU Berlin, Institut für Physiologie, Archivallee 22, Berlin 33, 8 bis 18 Uhr.Heute, 14 Uhr Filmvorführung »Nacht und Nebel«,18 Uhr: studentischer Vortrag: Rassenhygiene/Euthanasie , alles weitere siehe Programmteil.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen