Über das Chinesische

 ■ Von Yang Lian

Die chinesische Schrift ist mit dem Boden, auf dem sie entstand, aufs engste verwachsen. Die Gestalt der Hexagramme des Yijing, jenes ältesten chinesischen Buches der Wandlungen, bildet die natürlichen Gegebenheiten der nordchinesischen Landschaft ab. Die piktographischen Zeichen tragen sehr viel zu den reichhaltigen Möglichkeiten chinesischer Lyrik bei. Das haben auch westliche Lyriker bereits festgestellt. Ezra Pound erwähnt, daß die Bildzeichen für „Sonne“ und „Mond“ zusammen das Zeichen „hell“ formen, hell, wie wenn Sonne und Mond gleichzeitig scheinen. Oder es gibt Zeichen wie dao, der Weg, das sich aus „Kopf“ und „Fuß“ zusammensetzt — mit Überlegung gehen.

Einst sah ich in der Morgendämmerung am Ufer des Gelben Flusses, wie das Flußwasser, die gelbe Lößerde der Böschung und der goldene Himmel eine „gelbe Struktur“ bildeten. Die Besonderheit der chinesischen Kultur ist eben ihr struktureller Aufbau — bei den Daoisten im Verhältnis von Natur und Mensch, bei den Konfuzianern in dem von Gesellschaft und Individuum —: die alte Kultur hat ihre Anregungen von der Natur erhalten.

Auch heute, wenn wir modernen Dichter uns mit den Empfindungen moderner Menschen von neuem die „eigene“ Tradition erschaffen, müssen wir wieder die dem Chinesischen innewohnenden Möglichkeiten zu entdecken suchen, als die Seele unserer Sprache: Das Subjekt ist wandelbar bis hin zu seiner gänzlichen Abwesenheit; die morphologischen und syntaktischen Merkmale eines Wortes sind veränderlich; die Zeiten können undeutlich gemacht werden (die Verben kennen keine Zeitform), und infolgedessen wird es möglich, die Zeit zu überwinden. In meinen Gedichten wird besonders die visuelle Suggestionskraft der bildhaften Zeichen, die einen Eindruck von „Raum“ und „Struktur“ vermittelt, zu einem wichtigen Stilelement. In meinen langen Gedichten ist die „Struktur“ das Wichtigste, mehr noch als die konkreten Begriffe und Sätze vermag sie das Thema auszudrücken. Unter allen chinesischen Dichtern bewundere ich Qu Yuan (3.Jh. v.Chr.) am meisten, unter den ausländischen Dante und — im 20. Jahrhundert — Dichter wie Yeats und Eliot, die sich alle durch etwas Gemeinsames auszeichnen: Sie schaffen aus ihrem individuellen Geist heraus eine eigene, im Gedicht verborgene Welt, was bedeutet, daß sich ihre geistige Welt in ihrer Gesamtheit durch die Struktur des Gedichtes ausdrückt.

Yang Lian wurde 1955 in Bern geboren und wuchs in Peking auf. 1988 ging er für ein Jahr nach Australien. Nach dem 4. Juni 1989 konnte er nicht nach China zurückkehren; er lebt in Neuseeland. Seit Januar 1991 hält er sich als Gast des DAAD- Künstlerprogramms in Berlin auf.

Die hier wiedergegebenen Ansichten zeichnete er im Anschluß an ein dreistündiges Gespräch mit der Übersetzerin, Sabine Peschel, am Sonntag, 5.Mai 1991, auf. Yangs Gedichte „zeichnen sich aus durch eine bilderreiche Rhetorik, unpersönlichen und unlyrischen Ton sowie die Wahl von historischen und philosophischen Themen“ (Karl-Heinz Pohl). In deutscher Übersetzung erschien die Sammlung „Pilgerfahrt“, hrsg. von Karl-Heinz Pohl, Innsbruck (Hand-Presse) 1987.

Termine:

Yang Lian liest am 27.5.91 um 20Uhr in der DAAD-Galerie, Kurfürstenstr. 58, Berlin 30, aus seinen Gedichten. Die Übertragung besorgt Wolfgang Kubin.

—Am 1.6.91 um 17 Uhr spricht Yang im Jour fixe im Berliner Haus der Kulturen der Welt „Zur Rolle der Intellektuellen in China“.

Aus dem Chinesischen von Sabine Peschel