Kohl mit Augen zwinkern

Digitalretuschen, Paintboxes und Foto-CDs: Neues aus dem Reich der Manipulation  ■ Von Jürgen Bischoff

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ie Zeiten der verräterischen Fußspitze von Alexander Dubcek sind längst nicht mehr nur politisch, sondern auch technologisch passé. Das Bild der tschechischen Parteiführung nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 galt lange Zeit als Musterbeispiel für eine nicht ganz gelungene Retusche eines Fotos. Der Retuscheur hatte Dubcek und andere in Ungnade gefallene Genossen nach dem August 1968 aus dem offiziellen Foto der Parteiführung herausschneiden müssen und versehentlich (?) einen Schuh zuviel im Bild gelassen.

Mit der Digitalisierung und computermäßigen Erfassung von Bildern haben Schere und Pinsel bei der Bearbeitung von Foto- und Filmmaterial ausgedient. Die Retusche hat sich von ihrer materiellen Basis gelöst und findet in den Leiterbahnen von Computerchips statt. Damit jedoch hinterläßt sie in der Regel keine nachvollziehbaren Spuren mehr und entzieht mit ihren immer weiter verfeinerten Manipulationsmöglichkeiten jeglichem Bildmaterial die Glaubwürdigkeit.

Technologische Voraussetzungen für die digitale Bildmanipulation— „digitale Retusche“ ist ein Begriff des amerikanischen Autors Stewart Brand und angesichts der Fälschungsmöglichkeiten ein Euphemismus — ist die comutergerechte Zerlegung des Bildmaterials in einzelne Bildpunkte. Scanner, mit denen Bilder in das Rechnersystem „eingelesen“ werden können, CCD-Bildsensoren in Video-, aber auch Fotokameras, die das Bild schon bei seiner Entstehung elektronisch speicherbar machen, hochauflösende Bildschirme und fortgeschrittene Grafikprogramme für immer kleinere, aber immer leistungsfähigere Computer sind nötig, um ein Bild beliebig zu manipulieren.

Anfang der achtziger Jahre entwickelte die damalige Siemens-Tochtergesellschaft Hell in Kiel ihren Bildprozessor „Chromacron“, mit dem — so der 'Spiegel‘ seinerzeit— von Raumsonden zur Erde gesandte Fotos elektronisch nachgebessert werden sollten. Schon damals sah das Hamburger Blatt andere Anwendungsmöglichkeiten, so auch in der Kriminalistik, beispielsweise zur Herstellung von Fahndungsfotos. Die Vorarbeiten dazu wurden schon um die Wende zu den siebziger Jahren von William Schreiber und Donald Troxel am Massachusetts Institute of Technology im Auftrag der amerikanischen Presseagentur 'Associated Press‘ (ap) geleistet.

Seit geraumer Zeit schon hat die Technologie der Einzelmanipulation der Pixel Einzug genommen in die grafische Industrie. Alle Fotos von 'ap‘ werden inzwischen digitalisiert übermittelt. Die Fotos im 'Time Magazine‘ sind durchgehend digitalisiert, weitere Zeitungen haben ihre Druckereien umgestellt. In vielen Betrieben stehen sogenannte „Paintboxes“, Bildprozessoren, mit deren Hilfe Fotos mühelos in Farbe, Größe und Inhalt abgewandelt werden können, die aber auch grafische Routinearbeiten extrem erleichtern.

Die meisten Fernsehanstalten bedienen sich solcher „Paintboxes“. Aktuelle Karten der Golfregion lassen sich in kürzester Zeit auf den Computerbildschirm zeichnen, die Städtenamen müssen nicht mehr umständlich mit Letraset gerubbelt werden, und ganze Farbschattierungen, beispielsweise das von oben nach unten heller werdende Blau der ZDF-heute-Grafiken, werden per Knopfdruck produziert. Bis zu 16 Millionen Farbstufen können mit Hilfe einer Paintbox gemischt werden. Ränder an ausgeschnittenen Bildteilen werden durch Farben übertüncht, die man aus benachbarten Bildteilen entlehnt. Die Ergebnisse der Bildmanipulation finden aber nicht mehr nur Anwendung im reinen Grafikbereich. Aus Standfotos können ohne viel Aufwand sogar kleine Trickfilme werden. Der Sender Freies Berlin demonstrierte in einem Film über die Digitalisierung der Bilder, wie per Paintbox ein herkömmliches Foto des Bundeskanzlers zu einem Video mit einem augenzwinkernden Kohl mutierte.

In der grafischen Industrie benutzen die Hersteller von Zeitschriften und Versandhauskatalogen die Paintbox-Technologie. Wie bei einer Papier-Ausziehpuppe können einmal fotografierte Mannequins mit den unterschiedlichsten Kleidern bedeckt werden. Dabei läßt sich mit Hilfe der Computergrafik der Faltenwurf des Kleides der Körperposition „naturgetreu“ anpassen.

In Japan experimentiert der zweitgrößte Druckkonzern Toppan Printing schon mit der allumfassenden Verarbeitung von bewegtem Ausgangsmaterial: Digital in der Qualität des hochauflösenden Fernsehens (HDTV) aufgezeichnete Werbefilme für Versandhausprodukte sind gleichzeitig auch das Ausgangsmaterial für die Kataloge und die — bewegte oder unbewegte — Präsentation in den Verkaufsräumen.

HDTV seinerseits wird — so hoffen die Entwickler der verschiedenen Systeme in Japan und Europa — eine Revolution in der Filmherstellung mit sich bringen. Die elektronische Aufzeichnung der Bildsignale, die sich qualitativ der Auflösung des 35-mm- Films annähert, ist der Ausgangspunkt für die elektronische Manipulation der Einzelbilder, erst recht dann, wenn auch die letzten Schwierigkeiten bei der digitalen Aufzeichnung von HDTV-Bildern überwunden sind.

In dieser Phase machen sich die Kostenvorteile der neuen Technologie bemerkbar: Aufwendige Tricktechnik, ganze Special Units als zweiter Drehstab für Spezialeffekte, aber auch Maskenbildner und Bühnenbauer werden überflüssig. Das Videoband wird durch die Paintbox oder andere digitale Effektgeräte gejagt und mit entsprechenden digitalisierten Bildern kombiniert.

Die kanadische Fernsehserie Chasing Rainbows, die mit 14 Stunden Sendeumfang bisher längste HDTV-Produktion, wurde mit den Schauspielern im Studio in Toronto gedreht. Später stanzte man die Akteure in nur filmisch existierende zeitgenössische Sequenzen ein. Generell bringt der Übergang vom Film zum jederzeit disponiblen Videoband und zum sofort reproduzierbaren Bild, das ohne den Umweg über das Kopierwerk in klinisch reinen Räumen vor Schnittcomputern unmittelbar bearbeitet wird, eine enorme Kostenersparnis für die Filmproduktion.

Im Fotobereich drängt seit der letzten „Photokina“ die Foto-CD auf den Markt, ein Fotosystem der Firmen Kodak und Philips, bei dem der herkömmliche Film zwar noch im Labor entwickelt wird, aber nicht mehr zum Konsumenten gelangt. Statt dessen wird das Filmmaterial im Fotolabor digitalisiert und dann auf eine CD überspielt. Mit dem entsprechenden Compact-Disc-Player, der auch Videosignale lesen kann (Kostenpunkt etwa 1.000 DM) kann sich dann der Fotoamateur sein Urlaubsfoto auf dem heimischen Bildschirm ansehen. Für Papierabzüge gibt er die CD zurück ans Labor, das dann eine Kopie des digitalisierten Bildes liefert. Eventuelle Überbelichtungen, mangelnde Sonnenbräune auf Mallorca oder ein Finger auf dem Objektiv können ganz nach Wunsch per Paintbox im Foto-„Labor“ wegretuschiert werden.

In absehbarer Zeit kann der Fotoamateur diese Manipulation seines Foto- und Filmmaterials an jedem besseren Personal Computer zu Hause vornehmen. Der Computer ersetzt das Fotolabor im Keller. Der Apple McIntosh ist schon lange berühmt für seine Grafikmöglichkeiten. Zunehmend werden auch Computer des IBM-PC-Standards fähig zu komplizierter Bildverarbeitung.

Bewegte Computer-Simulationen in immer größerer Realitätsnähe und die Bearbeitung von Film- und Fernsehsequenzen dängen aus den Experimentierstuben auf den Schreibtisch: Nach Desk-Top-Publishing kommt das Desk-Top-Video. In wenigen Jahren kann der Heimanwender mit billiger Software seinen eigenen Zeichentrickfilm produzieren oder aber vorgegebene Filmsequenzen zu neuen, eigenständigen Videos arrangieren. Das Copyright der Fotografen und Kameraleute als Herstellern des Ausgangsmaterials wird mit der Digitalisierung durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

Doch anders als in den angelsächsischen Staaten ist das Problembewußtsein der deutschen Justiz für die Manipulationsmöglichkeiten durch digitalisierte Bilder vollkommen unterbelichtet. Wenn schon eine Recherche im juristischen Datenbanksystem „Juris“ keine Fundstellen zu diesem Themenkomplex aufweist, so ist es auch nicht verwunderlich, wenn sowohl der Deutsche Richterbund als auch der Republikanische Anwaltsverein erklären, daß in der jeweiligen Organisation noch nicht über Probleme in bezug auf digitalisierte Bilder, sei es im Rahmen des Urheberrechts oder im Zusammenhang mit der Strafprozeßordnung — Stichwort: generelle Zulässigkeit von Fotos als Beweismaterial — diskutiert worden ist (vergl. Kasten).

Juristische Konsequenzen wird die digitale Retusche früher oder später aber in jedem Fall mit sich bringen. Gegenüber dem ARD-Kulturmagazin Titel Thesen Temperamente beschwerte sich unlängst die Schauspielerin Susanne Uhlen über ein Titelbild in der Regenbogenpresse, das sie mit ihrer angeblich neugeborenen Tochter zeigte. Alle ihre Bekannten dagegen wunderten sich, daß Frau Uhlen noch weiterhin hochschwanger durch die Gegend lief. Des Rätsels Lösung: Das entsprechende Blatt hatte ein x-beliebiges Baby per Paintbox in die Arme von Frau Uhlen kopiert. Die Schauspielerin sah vorerst keine konkrete Chance, sich gegen derartig offenkundige Verfälschungen zu wehren.

Es gibt aber auch Beispiele für eine sinnvolle Anwendung digitaler Bildmanipulation. Kürzlich zeigte dies der Hessische Rundfunk mit seiner Sendung Todeszone — nach dem Super-GAU in Biblis aus Anlaß des fünften Jahrestags der Katastrophe von Tschernobyl. Hier wurden Szenen digital nachbearbeitet, die sonst nur mit enormem Aufwand hätten gedreht werden können. Bilder von der menschenleeren Frankfurter Innenstadt. Die leere Zeil, die Hauptwache ohne Menschen, kein Lebenszeichen auf dem Bahnhofsvorplatz. Sekundenkurze Szenen, aber keine Standbilder: Fahnen flattern, und Tauben fliegen durch die Luft. Diese Bilder hätten nicht einmal an einem Sonntagmorgen gedreht werden können, ohne ein gigantisches Aufgebot an Sperrpersonal zur Abriegelung der Straßen, was mit Sicherheit Verkehrsstaus zur Folge gehabt hätte. Mit der Paintbox wurden alle Autos und Passanten wegretuschiert, dabei aber mit dem neuartigen Zusatzgerät „Harry“ die beweglichen Teile des Bildes — flatternde Fahnen, Tauben — beibehalten: „Sie können davon ausgehen, daß uns die Bearbeitung jeder dieser Szenen zwei Arbeitstage vor der Paintbox gekostet hat“, sagt Gerald Vonau, Grafiker und Tricktechniker des Films.

Während ein solcher Einsatz der Paintbox produktionstechnisch und dramaturgisch sinnvoll ist, sind andere digitale Sequenzen des Films lediglich aus Rationalisierungsgründen motiviert. Wracks im Vorder- und Hintergrund der Szene, in der ein Auto in eine Kiesgrube gekippt und mit Sand abgedeckt wird, sind elektronisch ins Bild eingestanzt. Bislang hat man solche Szenen noch vor Ort mit echter Dekoration gedreht. In Zukunft wird das kaum noch nötig sein.