Nach der Schule die große Leere

Für die meisten Jugendlichen in der Ex-DDR sieht die Zukunft wenig rosig aus. Nach dem Schuljahresschluß im Juli wird jeder zweite Jugendliche vergeblich einen Ausbildungsplatz suchen. Der neue „Lehrherr“, die Bundesanstalt für Arbeit, versucht sich mit der „überbetrieblichen Ausbildung“ aus der Misere zu retten.  ■ VonVeraGaserow

Wenn alle zupacken“, „wenn alle Hebel in Gang gesetzt werden“ — und wenn nicht? Dann wird das eintreten, was Experten voraussehen, aber niemand so recht wahrhaben will. Dann wird in diesem Sommer jeder zweite Jugendliche in den fünf neuen Bundesländern vergeblich nach einer Ausbildungsstelle suchen. Ostdeutsche Misere pur: sie wird im Spätsommer mit einer Rekordarbeitslosigkeit bis zu 50 Prozent die Generation erreichen, die schon jetzt nicht weiß, wohin mit ihrem Leben, ihrer brachliegenden Energie und der Langeweile. Welche sozialen Konsequenzen das haben wird, welche Folgen für das Anwachsen von Kriminalität, Rechtsradikalismus oder Drogenanfälligkeit, läßt sich heute nur erahnen.

In den fünf neuen Bundesländern, so fürchten die einen, wird nach Schuljahresschluß im Juli ein Massenexodus von jungen Leuten in Richtung Westen einsetzen. Ebenso realistisch ist auch eine andere Prognose: Das Gros der ostdeutschen Jugendlichen wird einen einzigen „Lehrherren“ haben: die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg.

Offizielle Stellungnahmen hören sich dagegen wie Verheißungen aus einer anderen Welt an: einen Ausbildungsplatz für jeden verspricht vollmundig Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Alfred Gomolka. Kein Schulabgänger wird auf der Straße stehen müssen, heißt es auch bei der Bundesanstalt für Arbeit: „Jeder Jugendliche, der keinen betrieblichen Ausbildungsplatz bekommt, kriegt einen Platz in einem überbetrieblichen Ausbildungsbetrieb, das können wir garantieren“, versichert Dr. Jürgen Thiel, Referatsleiter der Abteilung Berufsförderung und Berufsausbildung bei der Nürnberger Bundesanstalt.

Bei wieviel tausend Jugendlichen er mit dieser Aussage im Wort steht, weiß Thiel allerdings selber nicht. Die Datenlage in den fünf neuen Bundesländern ist mehr als dürftig und enthält etliche Unbekannte: Mit 120 bis 130.000 Schulabgängern rechnen die Kultusminister im Sommer , diese Zahl scheint auch realistisch. Doch niemand kann mit Sicherheit sagen, wieviele tatsächlich einen Ausbildungsplatz suchen. Einige werden auf Hochschulen überwechseln, andere ihr Glück beim Jobben suchen, und die dritten werden vielleicht noch ein Schuljahr dranhängen und auf diese Weise die Statistiken entlasten.

Gleichzeitig werden jedoch zwei andere Gruppen von Lehrstellensuchenden die Situation auf dem Ausbildungsmarkt noch verschärfen: die Schulabgänger, die vom Vorjahr „unversorgt“ übrig geblieben sind und Tausende von „Konkurslehrlingen“ — Auszubildende, die zwar einen gültigen Lehrvertrag mit einem DDR-Betrieb in der Tasche haben — nur das dazugehörende Unternehmen ist inzwischen längst in die Pleite entschwunden. Mit Betriebeinstellungen und Kurzarbeit wurden in den meisten früheren DDR- Betrieben auch die Ausbildungsverträge aufgekündigt — eindeutig rechtswidrig nach bundesdeutschem Kündigungsrecht, doch das kümmerte die Kombinate, LPGs, HO- Gasstätten oder gewerkschaftseigenen Feriendienste ohnehin nur wenig. Und eingeklagt hat dieses Recht kaum jemand.

Rund 16.000 solcher „Konkurslehrlinge“ hat die Bundesanstalt für Arbeit seit Oktober 1990 offiziell registriert. Die tatsächliche Zahl dürfte noch höher liegen, und der „Höhepunkt dieser Entwicklung“, so heißt es in einem jüngst veröffentlichten Gutachten des Bundesinstituts für Berufsbildung, „ist zur Zeit noch nicht erreicht“.

Berufliche Bildung, das bedeutete in der früheren DDR beinahe ausschließlich Ausbildung in einem Großbetrieb. Rund 70 Prozent aller Lehrlinge konzentrierten sich dort auf nur wenige große Berufsbildungsstätten. Mit der Schließung dieser Einrichtungen brachen häufig gleich die Ausbildungskapazitäten ganzer Regionen zusammen. Insgesamt, so prognostizieren die Bildungsexperten des DGB, werden auf diese Weise rund 160.000 ostdeutsche Jugendliche im Sommer auf Lehrstellensuche sein — die meisten von ihnen vergeblich. Nach DGB- Schätzungen steht der Zahl der Suchenden ein realistisches Angebot von rund 35.000 Ausbildungsplätzen in den fünf neuen Bundesländern gegenüber. Bei den ostdeutschen Arbeitsämtern sind bereits jetzt, ein gutes Vierteljahr vor Ausbildungsbeginn, 88.000 BewerberInnen registriert. Auf jeden Ausbildungsplatz kommen im statistischen Mittel drei Aspiranten. In einigen strukturschwachen Gebieten Ostdeutschlands wird eine Lehrstelle den Seltenheitswert eines Hauptgewinns auf dem Rummel haben.

Die Gründe für diese Misere liegen auf der Hand: Wo die Wirtschaft zusammenbricht oder vor einer völlig ungeklärten Zukunft steht, wer soll da Lehrlinge ausbilden? Erschwerend kommt noch ein DDR- Spezifikum hinzu: Das mittelständische Handwerk — in den alten Bundesländern ein großer Ausbildungsträger — fehlt in den neuen Ländern fast gänzlich. Zur Ankurbelung der Ausbildungsfreudigkeit will die Bundesregierung jetzt den wenigen kleineren Betrieben in den fünf neuen Ländern einen Köder vor die Nase halten: Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten sollen für jeden Auszubildenden eine Kopfprämie von 5.000 Mark erhalten — doch das wird kaum den nötigen Lehrstellenboom bringen, denn die Finanzspritze reicht etwa im Baugewerbe gerade mal, um einen Auszubildenden sechs Monate lang zu entlohnen.

Dennoch zeigt man in Bonn und Nürnberg Optimismus. Das Zauberwort heißt: überbetriebliche Ausbildung. Was die fehlende oder lustlose Privatwirtschaft nicht schafft, das sollen private oder gemeinnützige Bildungsträger leisten. Finanziert aus Bonn, juristisch abgesichert über das Arbeitsförderungsgesetz sollen sie Tausende von überbetrieblichen Ausbildungsplätzen schaffen. Gelehrt wird in Bildungseinrichtungen, und nicht in einem bestimmten Betrieb, die Ausbildung findet auf einer Spielwiese statt, und jede Hauswand, die die Maurerlehrlinge morgens errichten, können sie abends wieder abreißen. 400 Millionen Mark hat Bonn der Bundesanstalt für Arbeit zur Finanzierung dieser Maßnahmen zugesagt, um die Lehrstellenmisere abzufedern. Gleichzeitig fehlt es an Einrichtungen und qualifizierten Leuten, um das Geld auch für den vorgesehenen Zweck zu verwenden.

Aus der Lehrstellenmisere läßt sich durchaus gutes Kapital schlagen. Die Großen unter den westlichen Bildungsträgern, wie z.B. der Internationale Bund für Sozialarbeit (IB), das Kolpingwerk oder das Berufsfortbildungswerk des DGB, haben längst das Vakuum in den neuen Bundesländern entdeckt und ihre „Claims“ abgesteckt. Auch zahllose — mehr oder minder seriöse — Ausbildungsinstitute haben erkannt, daß sich nicht nur mit Weiterbildung und Umschulung eine schnelle Mark machen läßt, sondern auch mit der Schaffung von überbetrieblichen Lehrstellenangeboten. Doch selbst wenn sie wollten, die Träger können nicht Zehntausende von fehlenden Ausbildungsplätzen aus dem Boden stampfen. Über das vollmundige Versprechen, jeder Schulabgänger werde, wenn nicht einen betrieblichen, dann doch einen überbetrieblichen Ausbildungsplatz bekommen, können die Träger dieser Maßnahmen nur müde lächeln. „Wir müssen bei den Arbeitsämtern die Ausbildungsplätze immer runterhandeln, weil wir guten Gewissens gar nicht so viele Lehrstellen schaffen können, wie die von uns wollen. Die Arbeitsämter klopfen nur Zahlen und gucken gar nicht, was dort qualitativ an Ausbildung passiert“, schimpft Bernd Rädel vom Institut für berufliche Qualifikation. „Unsere Kapazitäten sind erschöpft“, konstatiert auch Winfried Wächter von der Berliner Geschäftsstelle des Internationalen Bunds für Sozialarbeit. Um mehr Lehrstellen zu schaffen, müßte nicht nur das Geld fließen — es fehlt vor allem an Räumen, Maschinen und qualifiziertem Personal. Bis zu Beginn des Ausbildungsjahres im September gibt es noch eine Galgenfrist, in der auf kommunaler Ebene das eine oder andere überbetriebliche Ausbildungszentrum eingerichtet werden könnte. Aber wenn man bis zum Herbst wirklich die geschätzten noch fehlenden 50 bis 80.000 Lehrstellen schaffen wollte, dann, so meint Manfred Semler vom DGB-Berufsfortbildungswerk „müßte ja längst schon überall Richtfest gewesen sein“.