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Komm! ins Betroffene, Freund!

■ Unter dem Motto "Komm! ins Offene, Freund!" (Hölderlin) tagte am Wochenende im Ostseebad Travemünde zum ersten Mal gesamtdeutsch der Verband deutscher Schriftsteller. Literaten aus Ost und West versuchten...

Komm! ins Betroffene, Freund! Unter dem Motto „Komm! ins Offene, Freund!“ (Hölderlin) tagte am Wochenende im Ostseebad Travemünde zum ersten Mal gesamtdeutsch der Verband deutscher Schriftsteller. Literaten aus Ost und West versuchten zu klären, ob die „kompromittierten“ Schriftsteller der Ex-DDR Mitglied sein können.

AUS TRAVEMÜNDE ELKE SCHMITTER

Mit Travemünde ist der Ruhestand zum Ort geworden. Der Himmel ist lichtgrau, und in der Ferne verschwimmt die SPD. Auf der betonierten Promenade schauen die Pensionäre ihren Hunden beim Kotzen und beim Koitieren zu, und im Hintergrund reinigt leise die Ostsee den Sand.

Der Ort ist in vielerlei Hinsicht gut gewählt. Hier tagt der VS zum ersten Mal in gesamtdeutscher Art, und die Vorgeschichte dieses Vereinigungstreffens ließ erwarten, daß eine besänftigende Umgebung sich als hilfreich erweisen könnte. Zudem ist Travemünde der letzte Punkt im Osten, an dem man noch im Westen tagen kann. Und schließlich dient das nahe Wasser auch einer biblischen Erinnerung. Wäre die Sintflut im Diskussionstempo dieses Kongresses verlaufen, stünde uns das Wasser heute immerhin schon an den Fußknöcheln.

Immerhin wurde aber diskutiert, und das ohne Skandal. Ein Delegierter aus Ostberlin verzeichnete gegen Ende des zweiten Kongreßtages am Samstag, nicht ohne rührenden Stolz, daß es bislang vermieden werden konnte, auch nur zwei fersehreife Minuten herzustellen, und diese Anmerkung wurde mit Beifall honoriert. Daß ein Skandal vor allem dadurch vermieden wurde, daß weder Kläger noch Selbstverteidiger in den behandelten heiklen Fragen anwesend waren, und daß es nicht nur an fernsehreifen, sondern überhaupt an wiedergabetauglichen Minuten mangelte, blieb dabei unerwähnt.

Die große Frage dieser Tagung war, wie der nunmehr gesamtdeutsche Schriftstellerverband mit jenen Aufnahmewilligen zu verfahren gedenkt, die sich in der DDR Denunziation, Bespitzelung und Relegierung von Kollegen haben zuschulden kommen lassen — Kollege Kant kann hier als auch literarische Spitze des Eisbergs gelten. Hinter diesem Diskussionspunkt, abwechselnd mit der Vergangenheit beider deutschen Schriftstellerverbände, der Zukunft der deutschen Literatur und der Gegenwart im warmen Saale in Verbindung gebracht, traten berechtigterweise ebenfalls anstehende — zur Finanzlage in den fünf neuen Ländern, zur Absicherung von Autoren und Förderung der Literatur et cetera — zurück. An Zeit zu einer Debatte mangelte es jedenfalls nicht.

VS-Vorsitzender von beiden Seiten gescholten

Vorausgegangen war die sogenannte Briefaffäre: VS-Vorsitzender Uwe Friesel hatte im Februar dieses Jahres in einem persönlichen Brief insgesamt 23 Autoren der DDR, unter ihnen Hermann Kant, gebeten, ihren Aufnahmeantrag für den VS eine ungenannte Schamfrist lang zurückzustellen — bis dieser erste gesamtdeutsche Kongreß über Aufnahmebedingungen befunden hätte und bis vielleicht auch bei den Antragstellern selbst sich etwas eingestellt hat, was man im Näherungssinne als moralische Selbstreflexion betrachten könnte.

Wäre der VS nicht so eindeutig sozialdemokratisch und friedliebend, würde man sagen, daß dieser Schuß nach hinten losging: das 'Neue Deutschland‘, von einigen Briefempfängern selbst informiert, machte die „Liste“ öffentlich und sorgte für einen kleinen Presseskandal. Uwe Friesels diskreter Appell wurde von der Westpresse als ungeschickt und überdiplomatisch, von der Ostpresse vor allem als undemokratischer Ausgrenzungsversuch gescholten, die Dümmsten sprachen vom „Berufsverbot“. Die Briefempfänger selbst nahmen Gelegenheit, sich vor allem in der Ostpresse als Verfolgte darzustellen (die taz berichtete).

Der Brief war vielleicht nicht richtig, löste aber auf alle Fälle das richtige aus: Streit. Die Affäre machte den Spagat offenkundig, in dem sich der VS befindet: als Teil der IG Medien gewerkschaftlich verstanden, ist die Mitgliedschaft niemandem zu verweigern (deutsch- deutsche Ausnahmen der traditionellen Art sind lediglich „faschistische oder neofaschistische Aktivitäten“). Aber als Schriftstellerverband, dessen Aufgabe es laut Satzung ist, die schriftstellerische und publizistische Arbeit zu fördern, kann er sich die Aufnahme eindeutig belasteter Autoren nicht leisten. Der prekäre Umstand, daß in einem umstandslos vereinigten SV-VS Erich Loest, Reiner Kunze, Klaus Schlesinger neben ihre Vertreiber zu sitzen kommen könnten, erschwert die Sachlage außerdem.

Aber fast alle, die in die BRD- Emigration getrieben wurden, sind längst nicht mehr Mitglieder des VS. Die grenzübergreifende Friedens- und Entspannungspolitik des Verbandes in den siebziger und achtziger Jahren schloß ein, daß gute Kontakte zu Kant, Hermlin und anderen Staatskünstlern für wichtiger erachtet wurden als freundschaftliche Solidarität mit den sozialistischen Heimatvertriebenen wie Erich Loest oder auch unerwünscht eingetroffenen Renegaten wie Reiner Kunze.

Wenig Vertrauen in die Kulturschaffenden

Uwe Friesel, der den Renommeeverlust des VS bis zu den ungeahnten Tiefen der Gegenwart natürlich bedauert, erklärte bei diesem Kongreß auch zum Ziel seiner Politik, den VS für die vernachlässigten Vertriebenen wieder heimatfähig zu machen — also mußte Belasteten per Satzungserweiterung die Aufnahme verweigert werden können. Andererseits ist das erklärte Ziel des alternativlos wiedergewählten Vorsitzenden denn doch ein allgemeineres, gewissermaßen gemütliches: „Dann, wenn die Zeit gekommen ist“, schrieb er im März, „werden wir, so hoffe ich, über alles und mit allen reden.“ Dies wohl gab ihm den Titel des Kongresses ein: „Komm! ins Offene, Freund!“

Man kam allerdings ins Betroffene. Uwe Friesel plädierte, um den Spagat zwischen Gewerkschaftsverfassung und Verbandsglaubwürdigkeit zu entkrampfen, für eine Satzungserweiterung. Doch bei der anschließenden Debatte schliefen fast allen fast die Füße ein. Das Fehlen derer, die den Verband schon seit Jahren nicht mehr mit ihrer Stimme beglücken — Delius, Grass, Loest — machte sich leider penetrant bemerkbar. Die „zivilisationserhaltende Instanz“ Kultur in ihren Schaffenden, der „Hervorbringung von Literatur“ gewidmet, konnte uns für deren Zukunft in Travemünde nicht viel Hoffnung machen.

Paritätisch besetztes Führungsgremium

Einige selbstkritische Anmerkungen zur Geschichte des VS fielen nebenbei ab, der Autoren Karsunke, Schacht und Fuchs wurde abbittend gedacht. Und selbstverständlich fehlte es nicht an Appellen zur Errichtung eines Untersuchungsausschusses zur Geschichte von SV und VS, wie er schließlich auch beschlossen wurde; schließlich hat sich diese Einrichtung schon in den deutschen Parlamenten als Schonwaschgang bewährt. Man gibt die Frage in Kommission, und da verbleibt sie dann, bis ihre Beantwortung niemand mehr interessiert — im Gewerkschaftsjargon ein „Begräbnis erster Klasse“.

Geleitet werden soll der gesamtdeutsche Verband in den nächsten drei Jahren vom einem paritätisch besetzten Führungsgremium aus zwei Ost- und zwei West-Schrifstellern. Uwe Friesel (52) wurde in seinem Amt bestätigt, zum Vize gekürt wurden Wolfram Dorn (66) und der Lektor Klaus-Dieter Sommer (56). Komplettiert wird das Quartett durch den stellvertretenden VS-Bezirksvorsitzenden von Halle, Dieter Muck (55).

Die personellen Glanzlichter waren geliehen. Schirmherr Schäuble schwebte aus der Luft heran, sprach Wunderheilendes über die Geschichtsfälschung als persönliche Maßnahme („Aber ist es wirklich so schlimm, wenn heute viele ihre Vergangenheit anders darzustellen versuchen, zum Teil auch selbst anders sehen, als dies immer den Tatsachen entspricht?“) und speiste die plötzlich verarmten Ostpublizisten mit geistiger Nachsicht ab. Er wurde freundlichst verabschiedet, und alle gewerkschaftlich-gußeiserne Rede vom Ausbeutungs- und Verschleierungszusammenhang war kurzfristig verstummt.

Kollege Heym kam mit dem Schiff nach Travemünde, lobte die Worte des Innenministers als „sensibel und klug“, ließ ein, zwei, drei, viele neue Balsacs des Ausverkaufs in seiner Ansprache wachsen und gab im Anschluß ein Fernsehinterview. Björn Engholm schließlich, per Auto vom nebenan tagenden Landesparteitag der SPD entwischt, hielt unangemeldet, aber gern genommen, eine Rede, in der er Gide, Hölderlin, Kuhnert, Muschg und überhaupt allerlei durcheinanderwarf, ohne daß Stückchen Zukunft zu vergessen, das die Gegenwart uns weist. Wenn das Stück Zukunft, das den VS betrifft, sich nach der Gegenwart desselben richtet, können wir sie getrost verschlafen.

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