Endstation für einen Pendelzug

Noch bevölkern Stillegungstouristen den Wagon, der zwischen Kleve und Nijmegen pendelt/ Am Samstag ist Schluß/ Klever Bundesbahner: Strecke wurde ausgetrockenet  ■ Aus Kleve Bettina Markmeyer

Aus Amsterdam ist er gekommen, und er liebt die Eisenbahn. Einen Tag hat sich der Mann mit rotem Bart und Nickelbrille von seiner Arbeit freigenommen. Zwar habe er schon „alle niederländischen Strecken befahren“. Doch bedauerlicherweise habe er „die Grenzstrecken vernachlässigt“. Der Mann ist wie ein Schaffner blau gekleidet. „Als kleiner Junge bin ich einmal hier langgefahren, mit meinen Eltern. „Aber“, sagt er bedauernd, „damals war es dunkel. Ich konnte nichts sehen.“

Viel von den Wiesen, Kühen und Rapsfeldern neben dem Gleis, den deutsch begradigten Vorgärten und den Häkelgardinen auf holländischer Seite sieht der Mann dieses Mal auch nicht, da er seinen Nachbarn, einem alten Ehepaar, animiert von seiner Arbeit erzählt. Die beiden Alten aus Hilversum sind regelmäßige Fahrgäste der Linie Nijmegen — Kranenburg — Kleve. Sie gehen heute in Kleve bummeln. Nie, erinnern sie sich, war der Zug so voll wie jetzt. Alle 64 Plätze in dem einen Waggon, der von der Lok die 25 Kilometer zwischen Kleve und Nijmegen hin- und hergezogen wird, sind besetzt. Fünf Passagiere stehen. Der Grund für die Überfüllung: Mit dem Fahrplanwechsel wird die Strecke stillgelegt. Der Mann aus Amsterdam ist nicht der einzige, der noch mal mitfahren will.

Am Samstag ruckelt der Eilzug zum letzten Mal durch das holländisch-deutsche Grenzgebiet. Im Schiebeschrank des Bahnhofsvorsteherbüros, wo Grünlilien vor dem Fenster stehen und der Linoleumboden zarten Wischwasserduft verströmt, stehen zwei dünne Ordner zum Thema „Stillegung“. Am 1. Oktober kann Helmut Fischer sie endgültig zuklappen. Dann werden auch die letzten Güterzüge eingestellt, die dem Grenzbahnhof Kranenburg zwischen Kleve und Nijmegen bis dahin wenigstens den Anschein von Betriebsamkeit verleihen. Das sanftgelb gestrichene Bahnhofsgebäude wird im Herbst geschlossen. 26 Bahnbedienstete werden versetzt oder pensioniert.

Stillegung? Der Bahnhofsleiter Fischer hält sich nur kurz bei der „offiziellen Version“ von Unwirtschaftlichkeit und Einsparungen auf. „Vielmehr“, meint er, „ist die Strecke ganz bewußt ausgetrocknet worden.“ Zunächst habe man den grenzüberschreitenden Güterverkehr weggenommen, dann internationale D-Züge von den Niederlanden nach Süden. Noch bis vor einem halben Jahr wurden holländische Schnittblumen in Kranenburg umgeschlagen und weiter Richtung Alpen verschickt. Heute liefern die Holländer ihre Tulpen per Lkw über die verstopften Autobahnen nach Düsseldorf, von da geht es dann mit der Bahn weiter.

Parallel zum Fernverkehr wurde der Nahverkehr kaputtgemacht, meint der Bahnhofsleiter bitter. Der fünfmal am Tag verkehrende Pendelzug fährt so ungünstig, daß seine Benutzung für Menschen mit normalen Arbeitszeiten ausgeschlossen ist. Zu teuer ist er auch. Durch den Grenzübertritt erhöht sich der Preis für eine Rückfahrkarte um 5,20 Mark. Folglich knipste Schaffner Josef Görres nur fünf bis zehn Karten pro Fahrt. Wie die der Rentnerin, die von Nijmegen regelmäßig nach Kleve zum Heilpraktiker fährt. Sie kann in Zukunft nur noch mit den Bussen reisen, die für die Strecke doppelt so lange brauchen.

„Investiert worden ist auf unserer Strecke seit 25 Jahren nicht mehr“, sagt Görres, nimmt seine Mütze ab, dreht sie in den Händen und schließt die Augen. So kurbeln bei Kleve noch Bahnwärter die Schranken rauf und runter, was andernorts längst automatisch geht. Josef Görres lächelt. Seit das endgültige Aus für seine Strecke in der Zeitung vermeldet wurde, hat er soviel Arbeit wie lange nicht mehr. Dies ist die dritte Stillegung, die ihn trifft.

Also steht Josef Görres wieder auf, kontrolliert die Karten und erinnert sich, „wie wir schon Anfang der 80er Jahre mit 5.000 Unterschriften beim Verkehrsminister waren, um die Strecke zu erhalten“. Protestiert haben auch PolitikerInnen, EisenbahnfreundInnen und die Industrie- und Handelskammer. „Genützt hat es nichts“, resümiert Bahnhofsleiter Helmut Fischer. „Jetzt ist es aus.“