piwik no script img

Sots-art gegen Soz-real

Soziale Konzeptkunst in der Sowjetunion  ■ Von Boris Schumatsky

Man hat einen Wettbewerb für das beste Puschkin-Denkmal durchgeführt. Dritter Preis: der größte Dichter des alten Rußlands liest Werke von Stalin. Zweiter Preis: Stalin liest Werke von Puschkin. Erster Preis: Stalin liest Werke von Stalin.“

Dieser alte Witz illustriert ein Grundprinzip des Sozialistischen Realismus: Parteilichkeit. Die Kunst soll sich nach den Lehren des Marxismus-Leninismus richten und von der politischen Linie der Kommunistischen Partei leiten lassen. In den dreißiger Jahren bedeutete das: direkt von Stalin, Verkörperung des Parteiwillens und lebender Klassiker des Marxismus-Leninismus.

Den Sozialistischen Realismus hat Anfang der dreißiger Jahre Maxim Gorki erfunden, seit 1932 ist er für alle Kulturschaffende obligatorisch. In diesem Jahr faßte das Zentralkomitee der KPdSU den Beschluß „der Perestroika (Umgestaltung) der literarischen und künstlerischen Organisationen“. Alle unabhängigen Vereinigungen waren damit praktisch verboten, und alle Abweichungen von der Linie des Sozialistischen Realismus wurden streng geahndet — wie bei Schostakowitsch, Achmatova, Pasternak. Natürlich versuchten viele Künstler, besonders in den sechziger Jahren, unabhängig zu arbeiten (bei den Schriftstellern also für die Schublade zu schreiben). Es gab aber keine Kunstrichtung, die sich offen gegen Prinzipien des Sozialistischen Realismus gewendet hätte — bis die Moskauer Künstler Komar und Melamid die Sots-art erfanden.

„Ich erinnere mich an 1972“, erzählt Vitalij Komar, „es war eine sehr schwere Zeit. Die Ausstellungen von jungen Künstlern waren seit 1968 verboten. Wir alle waren sehr deprimiert. Früher hatte man viel miteinander gesprochen, über Kunst diskutiert, aber damals saßen wir nur zusammen und betranken uns. Und dann haben wir aus Langeweile einen Job angenommen. Es war ein Riesenstück Arbeit. Wir sollten ein Sommerheim der Jungen Pioniere zum 50. Jahrestag der Organisation ausstatten. Und während wir dort im Winter, in einem winzigen Zimmerchen — der einzige geheizte Raum in diesem riesigen Gebäude — alle mögliche Helden und Pioniere malten, kamen wir auf eine Idee: Es könnte doch einen Künstler geben, der all das nicht als Schluderei und Kitsch empfinden, sondern ganz ernst nehmen würde, und dann müßte er in diesem Stile auch für sich arbeiten, seine Frau, Kinder und Verwandte so darstellen.“

Die Freunde von Komar und Melamid lachten sich tot, als sie ein Selbstbildnis der Künstler sahen, gemalt wie offizielle Doppelporträts von Marx und Engels oder Lenin und Stalin: „Das ist sowjetische Pop- art!“ Die Idee gefiel den Künstlern, die Sots-art war geboren.

Hinter diesen Witzen steckt eine Bedeutung: Die Künstler sind zu der bewußten Arbeit im sozialen Raum übergegangen und konfrontieren sich mit dem Phänomen des sowjetischen Massenbewußtseins, der Mentalität des homo soveticus. Dieser „echte Sowjetmensch“ ist einerseits eine imaginäre Erscheinung: der Erbauer des Kommunismus und Bestarbeiter, ein ideologischer Mythos. Andererseits aber haben die sowjetischen Menschen die kommunistische Mythologie fünfzig Jahre lang reproduziert.

Um sich mit diesem ambivalenten Phänomen auseinanderzusetzen, konstruieren Komar und Melamid ein Simulacrum des „echten sowjetischen Künstlers“: Er malt im Stil der politischen Plakate seine eigene Frau und Tochter und unterschreibt eine anonyme Losung der KPdSU „Vorwärts zum Sieg des Kommunismus“ mit V. Komar/A. Melamid (weil sie zwei sind, wie auch Marx und Engels zwei waren). Zum ersten Mal wurde ein alternativer Diskurs innerhalb der sowjetischen Kultur aufgebaut, und damit war der erste, wohl intuitive Schritt zu der Dekonstruktion dieser Kultur und damit des ganzen Systems gemacht.

Natürlich konnte man Kunst dieser Art in der Sowjetunion nicht frei ausstellen. Sogar die Ateliers und Wohnungen standen unter Observation, eine künstlerische Aktion in Melamids Wohnung wurde von der Staatssicherheit unterbrochen. Im Laufe dieser Aktion sollte der Begriff des „echten sowjetischen Künstlers und Menschen“ neu interpretiert werden. Die Teilnehmer, die Freunde von Komar und Melamid, keine Künstler, sollten Bilder im Stile der Sots-art malen. Mehr als zwanzig Leute wurden festgenommen und ins Milizrevier gebracht.

Die Verfolgung der inoffiziellen Kunst ging so weit, daß „die Macht“ selbst eine Aktion gegen Künstler im Geiste der Sots-art durchführte — die berühmte „Bulldozer-Ausstellung“. Eine Gruppe unabhängiger Künstler (Komar und Melamid waren auch dabei) wollte eine Freiluftausstellung auf unbebautem Terrain machen, wurde aber mit Sprengwagen und Bulldozern auseinander getrieben. Diese polizeiliche Aktion wurde als ein „Subbotnik“ arrangiert.

Die Tradition der unentgeltlichen Arbeit am Wochenende (russ. Subbota = Samstag) hat in der Revolutionszeit ihren Ursprung. Es gibt Fotos, auf denen Lenin selbst beim Schleppen eines Baumstammes zupackt. In der Ära Stalin war der „spontane Enthusiasmus der Werktätigen“ zu einem regelmäßigen Ritual geworden, und später feierte man auf diese Weise Lenins Geburtstag. Besonders charakteristisch ist, daß die „heilige“ Tradition gebraucht wurde, um eine Ausstellung zu verhindern und unter anderem ein Selbstbildnis von Komar und Melamid zu vernichten — das Bild, in dem die Künstler ihrerseits die Tradition der offiziellen Profilporträts von Lenin und Stalin mißbraucht hatten.

1977 mußten Komar und Melamid auswandern. In den achtziger Jahren in den USA malten sie große neoklassische Bilder; jetzt ist Josef Stalin selbst der Hauptheld ihrer im Stil der amerikanischen „postmodern painting“ gehaltenen Gemälde. Mit einer neuen Konzeption gehen sie von der pseudo-sowjetischen Kunst zur postmodernen Malerei über, zu einer eklektischen Verbindung von Akademismus und Surrealismus. Komar und Melamid malten ein weiteres Selbstbildnis als Nachtrag. Aber jetzt ist es keine Parodie auf offizielle Doppelporträts: zwei fünfzigjährige Pioniere, von den Gegenständen aus ihrer Kindheit umgeben, geben der Stalinbüste Salut. In den meisten Bildern dieser Zeit spielt Stalin die Rolle des Demiurgen einer religiösen Mythologie, wie zum Beispiel in dem Bild, auf dem die Muse selbst ein Porträt von Stalin malt — eine durchaus abweichende Rolle zur deklarierten Position des Klassikers der „wissenschaftlichen Lehre“.

Was aber Komars und Melamids persönliche Stellungnahme angeht, so simulieren sie ein Bestreben nach Ruhm. Im Namen des Simulacrums des „großen Künstlers“ behaupten sie, daß „unserere Zukunft hinter uns liegt“, das heißt in der Ära Stalin. Mit gut gespielter Nostalgie schauen sie zurück und wiederholen: „Es war eine große Zeit!“ Wenn es früher nur um den „echten sowjetischen Künstler“ ging, so geht es jetzt um den „großen Künstler“ überhaupt.

Die Demystifikation der sowjetischen Mythologie dehnt sich auf den romantischen Mythos von der künstlerischen Persönlichkeit aus. Die Vorstellung vom Künstler als Propheten hat in Rußland am längsten durchgehalten, weil sie mit der totalitären Macht zusammenhängt, die die ganze Kultur durchdringt. Und diesen Zusammenhang decken Komar und Melamid an dem Beispiel der idyllischen Beziehungen auf, die den „großen Künstler“ mit dem Archetyp des Vaters im kollektiven Unbewußten verbinden — mit dem „Vater der Völker“, Josef Stalin.

Im Gegensatz zu Komar und Melamid setzt sich Ilya Kabakov in erster Linie nicht mit dem Sozialistischen Realismus auseinander, sondern eher mit der sozialistischen Realität. Und obwohl im Mittelpunkt seiner Kunst wiederum der Begriff des homo soveticus steht, wird das sowjetische Massenbewußtsein auf dem niedrigen Niveau des Alltagslebens aufgedeckt. Eine Tafel mit dem kleinen Rohkost-Reiber in der Mitte und Inschriften wie „Wo ist mein Rohkost-Reiber?“ oder „Ich weiß nicht“ — diese aus einem Küchenstreit gegriffenen Wörter bilden einen Gegensatz zu den als Muster proklamierten Gemälden des Sozialistischen Realismus, genauso wie der höllische Alltag der sogennanten Kommunewohnungen ein Gegensatz zum verkündeten Paradies der offiziellen Propaganda ist. Bis in die sechziger Jahre hinein hatten fast alle Wohnungen in der Sowjetunion mehrere Hauptmieter, die gemeinsam Küche, Bad und Toilette benutzten. In den „Kommuneküchen“ standen fast immer mehrere Gasherde, weil die Leute oft nicht wollten, daß die Nachbarn die eigenen Küchengeräte mitbenutzten. Dabei stand einer Familie in der Regel nur ein Zimmer zu Verfügung, Kinder mußten zusammen mit ihren Eltern, und sogar auch noch mit den Großeltern wohnen. Unzählige Ehen, ja ganze Menschenleben sind an diesen Bedingungen gescheitert, der Kampf um den Lebensraum hat die Mentalität vieler Generationen geprägt. Und in diesem menschlichen Ameisenhaufen arbeitete die kommunistische Ideologie hartnäckig von der Kinderkrippe an mit der Aufzucht des „echten Sowjetmenschen“. Die Sowjetmenschen, die diese Ideologie reproduzierten, haben sie eigenen Vorstellungen angepasst.

In den sechziger Jahren und besonders nach 1968 gingen viele Intellektuelle der Sowjetunion in die Opposition zum herrschenden System. Für immer mehr Künstler waren alle Dogmen und Werte der offiziellen Kultur außer Kraft gesetzt. Viele waren nicht mehr bereit, im Rahmen des Erlaubten zu arbeiten und Kompromisse mit der kommunistischen Ideologie einzugehen. Man geriet dabei aber in einen Teufelskreis. Echte Kunst war jetzt alles, was nur kein Sozialistischer Realismus war. Die Ideologie bestimmte also nach wie vor den Kunstbegriff. Die Künstler standen vor der Wahl, an eine „freie“ Tradition — russische oder westliche — anzuknüpfen. Für die russische Avantgarde der zehner und zwanziger Jahre, die eine so große Rolle in der Geschichte der modernen westlichen Kunst gespielt hatte, zeigte man dabei relativ wenig Interesse. Die Jahre der „Sowjetmacht“ waren eine Bestbehandlung gegen die Viren des Totalitarismus.

„Auf ihren Handflächen soll der Sturz der alten Welt vorgezeichnet sein. ... Es ist ein Wirtschaftsrat einzuberufen, der die Liquidation aller Künste der alten Welt besorgt“, schrieb Kasimir Malewich bald nach der Revolution. Aber in den sechziger und siebziger Jahren konnten diese Ideen kaum ein Widerhall bei den Künstlern finden, deren Kunst immer in Gefahr war, von irgendeinem Rat oder Komitee liquidiert zu werden. In gewisser Hinsicht war der berühmte Schöpfer des „Schwarzen Quadrats“ und Erfinder des Suprematismus ziemlich eng mit den Bolschewiken verwandt, die die gesellschaftlichen Klassen liquidiert hatten.

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Diese Verwandtschaft deckt Erik Bulatov in seinem Bild Der Horizont (1972) auf. Man erkennt dort viele Klischees des Sozialistischen Realismus: typisch sowjetisch gekleidete Leute, die am Strand spazierengehen. Ein offiziöser Maler könnte eine ähnliche Komposition „Horizont der Zukunft“ nennen, aber bei Bulatov sieht man die Linie des Horizontes nicht. Statt dessen erscheint ein merkwürdiger roter Streifen, eine flache Form, die Malevich „Suprema“ nannte. Dieses Symbol der Avantgarde zerstört die perspektivische Tiefe und damit den Lebensraum der dargestellten Menschen.

Bulatov betont die totalitäre und unmenschliche Seite der Avantgarde, indem er diese Suprema ideologisch dechiffriert und ihr die Form der höchsten Auszeichnung der Ära Stalin gibt: das Ordensband des Lenin-Ordens. Für Bulatov sind die russischen Avantgardisten in erster Linie Träger der totalitären Ideologie, die Kommissare der neuen Kunst, die nach der Revolution die Kulturpolitik der Bolschewiken mitbestimmt hatten. Es ist paradox, aber selbst Bulatov ist von der Ideologie beeinflußt.

Nach seinem eigenen Geständnis ist für ihn der perspektivische Innenraum, die Innenwelt des Bildes die einzige, absolute Realität. „Sie ist viel realer, als die Welt, in der ich lebe“, und in der die kommunistische Ideologie immer noch durch die Bildfläche einzudringen und den perspektivischen Raum zu zerstören versucht. Die Spannung zwischen diesen beiden Räumen ist die Quelle von Bulatovs Kunst. Die kommunistische Ideologie ist also integraler Bestandteil seines Kunstbegriffes. Wenn es keine lastende Kraft gäbe, könnten seine Bilder nicht existieren.

Bulatov empfindet die Ideologie als Druck und Gewalt der „Macht“, Kabakov dagegen betont eine andere Seite der Ideologie und zeigt, wie die einfachen Leute sie reproduzieren. Noch in den siebziger Jahren hatte Kabakov Alben mit Illustrationen und Kommentaren gemacht. Darin erzählte er unter anderem die Geschichte eines Avantgardisten, den er dem zeitgenössischen Spießbürger gleichstellte. Die Illustrationen stellten die Welt so dar, wie der Held sie sah, und die Kommentare dokumentierten, was seine Verwandten und Nachbarn über ihn gesagt hatten. Ein Album war mit einem schwarzen Bild eröffnet: der Held hat sich im Schrank versteckt. Und was dieser „im Schrank sitzende Primakov“, wie ihn die Nachbarn nennen, sah, war eigentlich das „Schwarze Quadrat“ von Malevitsch. Den autoritären Leader der neuen Kunst, der mit ihrer Hilfe die Welt verändern wollte, vergleicht Kabakov mit einem Sowjetmenschen, der natürlich die „Schraube“ des Systems war, aber gleichzeitig der Erbauer der neuen Welt und der strahlenden Zukunft zu sein hatte.

Diese Ironie hilft aber Kabakov nicht, sich aus dem Teufelskreis der totalitären Kultur loszureißen. Das Losreißen ist zum ständigen Thema seiner späteren Installationen geworden, die die Himmelfahrt eines Mannes aus seiner Kommunewohnung darstellen. Die sowjetische Realität läßt aber Kabakov nicht los — weil er selbst sich nicht frei zuläßt. Wie auch für Bulatov ist sie für ihn die Grundlage seiner Kunst.

Kabakov vertritt eine neue Modifikation des autoritären Künstlertypen. Mit großem Vergnügen spielt er die Rolle des Oberarchivars der spätsowjetischen Epoche. Ende der siebziger Jahre wird Kabakov auch Leader der sowjetischen Konzeptkunst, obwohl es kein Ziel mehr gibt, zu dem er führen könnte. Kabakov schreibt die Erinnerungen — wie der Held seiner eigenen Installation: Der Mann, der seine Sachen nie weggeworfen hatte.

Die Befreiung vom Totalitarismus und den alten Autoritäten scheint nur die jüngere Generation vollziehen zu können — die Künstler, die der kommunistischen Ideologie gar keine Aufmerksamkeit mehr widmen, weil sie nicht mehr existiert. Als ein Symbol dieser Befreiung kann man Kabakovs Schrank von Igor Makarevitsch betrachten. Es ist der alte Schrank aus einer Kommunewohnung, der Künstler öffnet ihn, und siehe, statt des „im Schrank sitzenden Primakov“ erscheint dort Ilya Kabakov höchstpersönlich, seine Wachspuppe, die beinahe herausfällt.

Soziale Konzeptkunst, die zwanzig Jahre lang an der Zerstörung des Sozialistischen Realismus gearbeitet hatte, kann ohne totalitäre Ideologie nicht existieren. Sehr trefflich haben diese Situation Komar und Melamid in einen Spruch gefasst: „Wir sind Enkel der Avantgarde und Söhne des Sozialistischen Realismus.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen