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Mandelbrotsche Fraktale

■ Der Siegeszug der Ethnien als identitätsstiftende Kategorie

Mandelbrotsche Fraktale Der Siegeszug der Ethnien als identitätsstiftende Kategorie

Die politische Landkarte Osteuropas im Kopf der allermeisten Westeuropäer war bis vor nicht allzulanger Zeit ein getreues Spiegelbild des Zentralismus im real existierenden Sozialismus. Rußland als gängiges pars pro toto für die Völkervielfalt der Sowjetunion, Jugoslawien ein Staat ohne größere Unterschiede, ja, die Minderheit der Albaner, die kannte man, und vielleicht auch gewisse Differenzen in den Sprachen. Die Tschechoslowakei, das wußte man, bestand aus zwei Hälften. Aber dann? Die große ungarische Minderheit in Rumänien lernte die Mehrzahl erst aus den Massakern in Temeswar kennen, die Ukrainer, in Deutschland hatte man sie verdrängt, waren sie doch Hitlers Helfer gewesen, und auch die Balten...

Das tragende Gerippe der Staatswesen in Osteuropa, der Realsozialismus unter Führung der Partei der Arbeiterklasse, ist zusammengebrochen, die Gesellschaften implodieren, und bei der verzweifelten Suche nach neuen Formen der Stiftung von Gemeinschaft erleben wir eine wahre Explosion von Minderheitenansprüchen, von Völkerschaften, die in der jüngsten Vergangenheit noch nach Gesichtspunkten von politischer und wirtschaftlicher Planbarkeit einfach umgepflanzt wurden, deren Identität und Stolz verletzt wurde und die sich heute nicht selten als verzweifelte Rettungsanker wiederzuentdecken bemühen, um den vollkommenen Absturz der Gesellschaftlichkeit aufzuhalten.

Und wie verständlich diese Suche nach irgendeiner Form von roots auch sein mag, den — zugegebenermaßen ratlosen, oft nicht sachkundigen und doch mitfühlenden — Westeuropäer beschleicht nicht selten angesichts der neuen Landkarte, die er nun zu lernen hat, der Eindruck: das ist wie eine Zerschlagung der Endlichkeit in Fraktale. Wie Mandelbrot die Küstenlinien in immer kleinere Kurven, eben Fraktale, zerschlägt, deren Summe gegen Unendlich geht, so lösen sich unter der Suche nach kollektivem Sinn die Völker in immer kleinere Einheiten auf.

Es gleicht einem Weg in die Kleinteiligkeit unter Umgehung der Individualität. Das ist kein Grund, die Nase zu rümpfen über Osteuropa, oder sich — vom Westen her —, weil im Besitz des „Königswegs der Freiheit“, überlegen zu fühlen. Individualität als unhintergehbare Kategorie der Freiheit ist keine Monade, sie ist — durch die Verantwortung — bezogen auf den Anderen. Heute muß sich diese westliche Idee der Freiheit daran beweisen, inwieweit es gelingt, den jungen Demokratien in Osteuropa einen Weg aus dem Labyrinth der Mandelbrotschen Fraktale zu zeigen, ohne sie doch zugleich — und voller Selbstgewißheit — unter die eigene Begrifflichkeit zu subsumieren. Daß das nicht nur eine Frage des Geistes ist, kann heute jeder sehen. Ulrich Hausmann

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