Angst und Alpträume in Mittenwalde

■ Momentaufnahmen einer Kleinstadt südlich von Berlin/ Ein Ort ohne Perspektiven/ Mülldeponie und scheinbares Altstadt-Idyll/ Investitoren aus dem Westen wollen das Land »abkaufen«

Enge, gepflasterte Gassen, die zum Schlendern rund um die efeuberankte Mauritius-Kirche einladen, dazu eine mittelalterliche Stadtstruktur samt Tor und Befestigungsanlagen: Mittenwalde ist eine idyllische Kleinstadt, deren Ortskern an sonnigen Wochenenden die Ausflügler in Scharen anzieht, vor allem aus dem 25 Kilometer entfernten Berlin.

Die Umstände, die seit etwa einem Jahr den Alltag der 2.000 Mittenwalder bestimmen, stehen in denkbar krassem Gegensatz zu diesem Altstadt-Idyll. Denn in Mittenwalde herrscht vor allem Angst: Angst, daß noch mehr Menschen arbeitslos werden; Angst, daß weitere Grundstücke und Häuser von ihren ehemaligen Besitzern zurückgefordert werden; Angst, daß die Mieten und Kohlepreise steigen; Angst, daß weiter Geschäfte in der Stadt schließen müssen; und nicht zuletzt Angst vor der Mülldeponie vor der Stadt, die seit Jahrzehnten das Grundwasser verunreinigt.

Psychische Spannungen

»Seit Monaten redet niemand mehr über etwas anderes als über Probleme«, berichtet Susanne Weichenhan, die seit Anfang des Jahres Pastorin in Mittenwalde ist. »Das Schlimmste ist die Arbeitslosigkeit. Jede Familie ist davon betroffen.«

Die finanziellen Folgen von Kurzarbeit, Vorruhestand und Entlassungen sind dabei nur die eine Hälfte des Problems: »Durch die Ungewißheit über die Zukunft nehmen die psychischen Spannungen enorm zu. Die Menschen sind ständig gereizt. Viele wissen nicht, wie sie mit ihren Ängsten umgehen sollen.« Das bekommen vor allem die Kinder zu spüren: »Die leiden besonders darunter, daß die Probleme der Eltern bei ihnen abgeladen werden.« Schulterzuckend sagt sie: »Da müssen wir nun mal durch« — eine Feststellung, die man in Mittenwalde von jedem Menschen hört, der etwas über die momentane Situation sagt.

»Da müssen wir eben durch«, sagt auch Gerd Nischan, der seit 67 Jahren in Mittenwalde lebt. »Der zweitgrößte Betrieb im Ort, die ‘Gasanlagen AG‚, hat bisher etwa 350 von 700 Arbeitern entlassen«, berichtet der ehemalige Tischlermeister, »und keiner weiß, wie viele es noch treffen wird.« Dadurch und durch die Schließung von einer der zwei Mittenwalder LPGs und einiger kleiner Betriebe »sind im letzten Jahr fast 50 Prozent der Leute arbeitslos geworden«, schätzt Nischan. Weitere Schwierigkeiten sieht er in der Abwanderung jüngerer Arbeitskräfte ins nahegelegene Königs Wusterhausen oder nach Berlin: »In einigen Jahren werden wir statt der Arbeitslosigkeit einen großen Mangel an Handwerkern und Arbeitern haben.« Im Moment klinge das zwar utopisch, »aber in drei bis fünf Jahren«, prophezeit er, »werden sie staunen, wie sich unsere Stadt entwickelt hat«.

Nur einige Fahrradminuten von Mittenwalde entfernt liegt Großmachnow. Am Anfang des kleinen Dorfes stehen die Ställe und Häuser der »LPG Tierproduktion« — Überbleibsel der gerade beendeten Vergangenheit: Die Genossenschaft ist pleite. »Vor sechs Wochen wurde die letzte Kuh verkauft«, erzählt Erika Müller, die mit ihrem Obst- und Blumenstand an der Durchfahrtsstraße auf Kundschaft wartet, »seitdem sitzen die über 20 Angestellten ohne Arbeit da«, — für das 650-Einwohner-Dorf keine Kleinigkeit. Die meisten Einwohner von Großmachnow arbeiten allerdings bei der »LPG Pflanzenproduktion« — noch. Denn die 170 LPG-Leute haben die Felder im Frühling bestellt, »aber niemand weiß, ob wir sie jemals abernten werden«, wie ein Mitarbeiter sagt.

»Haie« in Großmachnow

Zusätzliche Unruhe verursachen im Dorf ganz besondere Besucher aus dem Westen: Von den elf Mietshäusern in Gemeindeeigentum gehen bisher neun an ihre ehemaligen Eigentümer, allesamt aus der alten Bundesrepublik, zurück; die Zukunft der Bewohner ist ungewiß. Und immer öfter tauchen in Großmachnow »Haie« auf, wie die Dorfbewohner sagen: Investoren, die im Bodenbesitz der Gemeinde ein Schnäppchen wittern. »Wenn wir nicht aufpassen, haben die im Handumdrehen unser Land aufgekauft«, sagt Klaus Rocher, ehrenamtlicher Bürgermeister des Ortes. Seit er vor einem Jahr in dieses Amt gewählt wurde, ärgert er sich über eigenmächtig vorgehende West-Firmen, »die sich gar nicht darum scheren, was sie genehmigen lassen und mit uns absprechen müssen«.

Zwar setze er in die Ansiedlung von Betrieben »große Hoffnungen«, aber »zu einigen Geschäftemachern, die sich nicht an die Regeln halten, ist unser Verhältnis sehr belastet.« Zum Beispiel zu der Gesellschaft aus West-Berlin, die am Ortseingang einen »Großhandel für Haustechnik und Industriebedarf« aufbaut: »Zwar haben wir eine generelle Absprache getroffen, aber viele genehmigungspflichtige Bauarbeiten wurden bisher ohne unsere Zustimmung durchgeführt — die scheren sich offensichtlich gar nicht darum, die Bestimmungen genau einzuhalten. Außerdem hatten wir vereinbart, daß am Bau auch Firmen aus unserer Region beteiligt werden, jetzt sind dort aber wieder nur Unternehmen aus West-Berlin zugange. Und wir müssen uns das gefallen lassen, denn wir brauchen die Arbeitsplätze, die uns versprochen wurden ...«

Ungekrönter König

Hinzu kommt, so Klaus Rocher, daß die alten Machtstrukturen im Ort nach wie vor spürbar seien: »Bis zur Wende war der LPG-Vorsitzende ungekrönter König im Ort. Jetzt bin ich der ‘Chef‚, aber viele Sachen laufen immer noch hinter meinem Rücken ab.« Der Bürgermeister sieht seine Gemeinde in einer verhängnisvollen Situation: »Einerseits wird die Atmosphäre durch die ganzen Frustrationen immer aggressiver, andererseits brauchen wir dringend positive Initiativen, um aus dieser Situation herauszukommen.« Eine pessimistische Zustandsbeschreibung: »Wir haben im Moment keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Wir können nur weiter daran arbeiten«, sagt Rocher fast beschwörend, »daß wir die Lage so schnell wie möglich in den Griff bekommen, damit es langsam wieder bergauf geht...« L.v.Törne