Südkorea: „Wir brauchen mehr Toleranz“

Nach dem „Eierangriff“ auf Südkoreas Premier sind die meisten Führer der linken Studentenorganisation Chondaehyop untergetaucht/ Trotz Kritik an der Härte der Auseinandersetzungen teilen viele StudentInnen den Unmut der Aktivisten  ■ Aus Seoul Peter Lessmann

Im Studentenbüro der Sungkyunkwan-Universität herrscht ein heilloses Durcheinander. Flugblätter, Plakate und Zeitungen türmen sich auf Schreibtischen zwischen überfüllten Aschenbechern. Ein Student hat sich auf zwei Stühlen ausgestreckt und schläft. Vieles erinnert an deutsche Studentenkultur der Spätsechziger. Eine junge Frau, lässig eine Zigarette paffend, kümmert sich um uns. Ja, mit Vertretern der „Chondaehyop“, der illegalen nationalen Studentenorganisation Südkoreas, können wir schon sprechen.

Seit einigen Tagen fahnden die Polizeibehörden nach fast 90 „linksradikalen“ StudentInnen und DissidentInnen. Mit dem „Eierangriff“ auf den Premier Chung Won Shik durch einige Hochschüler hat die Regierung in der Öffentlichkeit unverhofft wieder die Oberhand gewonnen, nachdem sie durch die Proteste im Mai unter erheblichen Druck geraten war. Die meisten Führer der Chondaehyop sind untergetaucht. Auch Paek Song Min (Pseudonym), der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, steht auf ihrer Liste.

„Es ist die faschistisch-militärische Regierung des Präsidenten Roh Tae Woo, die Gewalt ausübt; wenn Studenten Brandbomben und Steine werfen, so ist das reiner Selbstschutz“, sagt Paek. Man müsse einfach akzeptieren, daß die Leute wütend seien, nachdem ein Student von Polizisten zu Tode geprügelt wurde. Im übrigen gäbe es sogar einige Studenten, die bedauerten, daß der Premier so glimpflich davon gekommen sei. Der Monolog des Chondaehyoplers nimmt kein Ende, er spricht von den Märtyrern unter den Studenten, ist verbittert, voller Haß auf die Regierenden und kompromißlos.

Gewalt auf Südkoreas Straßen, sie war im Monat Mai schon fast wieder zum Alltag geworden. „Yorobun, yorobun [Zuhörer]...“, tönt es immer wieder durch den Polizeilautsprecher, „das ist eine verbotene Kundgebung, lösen Sie sich bitte auf!“ Aber die Studenten gehen nicht und antworten auf ihre Weise: „Nieder mit Roh Tae Woo!“ Ein Handgemenge, eine harmlose Keilerei genügt und die gepanzerten Tränengasfahrzeuge öffnen ihre Rohrschächte: Die Straßenschlacht beginnt.

Daß Studentenaktivisten gut vorbereitet auf Demonstrationen ziehen und nichts einer unberechenbaren Spontaneität überlassen, wissen nur die wenigsten. „Die ,Sasucho‘, die Kämpfer mit den Brandbomben, die stehen normalerweise an vorderster Front“, erklärt ein Student. Dahinter würden die Leute mit den Eisenstangen postiert. Sie wechseln sich ab, wenn es zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften kommt, und sie lassen sich auch mit Steinen aus dem hinteren Teil des Demonstrationszuges versorgen. Gegen Tränengas und Polizeifotografen haben die Aktivisten ihre Gesichter maskiert. Hinter ihnen versammelt sich die Masse der Protestler und die Unerfahrenen, diejenigen, die ihre „Feuerprobe“ bestehen wollen — rhythmisch angefeuert durch eine Trommlergruppe.

„Für viele Studenten, besonders die jüngeren, besteht schon fast ein Zwang, auf Demos zu gehen, wenn sie von ihren älteren Kommilitonen dazu aufgefordert werden“, erklärt mir Park Chi Won. Also auch unter StudentInnen scheint die traditionelle Rangordnung von Alt und Jung gültig zu sein. Aber es gibt auch Kritik, die jedoch nur selten nach außen dringt. In der Chondaehyop, glaubt die Studentin Park, herrscht ein autoritärer Führungsstil. Das sieht der Aktivist Paek ganz anders. „Die Studenten lieben uns“, meint er. Immerhin seien es 40.000 gewesen, die Wind und Regen trotzten und zum Fünfjahrestag der Organisation in die Hafenstadt Pusan kamen. Er mißtraut Presseberichten über ein Nachlassen der Proteste und die öffentliche Kritik an Studenten. Das sei nur Propaganda der regierungsfreundlichen Medien.

Unter den linken Studentenorganisationen in Südkorea ist Chondaehyop derzeit die führende. Sie beruft sich auf die Theorie der nationalen Befreiung (NL) und verheimlicht ihre Sympathie für die Juche-Ideologie des kommunistischen Herrschers Kim Il Sung aus Nordkorea nicht. Eine zweite Gruppe nennt sich „Volksdemokratie“ (PD) — eine marxistisch-leninistische Kaderorganisation. Ihr Vorbild, so ein PDler, ist das Lenin-Rußland kurz nach der Revolution. Und Südkorea? Dem Wesen nach faschistisch, heißt die Antwort der jungen Germanisten, die heute nicht mehr Thomas Mann und Hermann Hesse lesen, sondern Marx, Engels und Lenin.

Und was denken sie über den demokratischen Kampf ihrer chinesischen Kommilitonen und den weltweiten Niedergang des Kommunismus? will ich wissen. Aber über China wollen sie sich nicht äußern, das Tiananmen-Massaker scheint ihr ideologisches Bild nur zu verwirren. Die Geschichte verlaufe nicht gradlinig, meint einer, der Kommunismus sei nicht tot, sondern eine Notwendigkeit. Und sie zitieren Marx: die Abschaffung der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, dafür wollten sie kämpfen.

Doch ob NL oder PD — die meisten StudentInnen sind politisch eher desinteressiert und mehr an westlichen Vorbildern orientiert, sie können mit den plakativen Forderungen nur wenig anfangen. Aber als Studenten akzeptieren sie ihre aktiven Kommilitonen und können deren Unmut verstehen.

So auch der Maschinenbaustudent Kim Sung Hwa. Kim ist ehrgeizig und lernt Englisch, weil er nach dem Examen in den USA einen Job suchen will. Er ist unzufrieden mit der Regierung, verabscheut aber die Härte der Auseinandersetzungen. Da denken zwei junge Studentinnen von der Hanyang-Universität kaum anders. Aus Furcht vor den Straßenschlachten gehen sie erst gar nicht auf Demos. „Ich kann sehr wohl verstehen, warum die Leute auf die Straße gehen“, meint eine. „Was wir aber gerade heute angesichts von Emotionalität und Gewalt mehr denn je brauchen, das ist ein Stück Toleranz.“