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ÜBERHAUPTSTADT, DIE ZWEITE

■ Aus welcher Höhle grunzt sich's besser?

Die Volksabstimmung in der Hauptstadtfrage, wie sie mittlerweile auch der Justizminister in Erwägung zieht, ist ein schlechter Witz: wo regiert wird, soll das Volk entscheiden dürfen, wie regiert wird, behalten sich weiterhin die Politiker vor. Es fehlt nicht mehr viel, und demnächst wird es auch in Fragen etwa der Dienstwagenverordnung zu einem Plebiszit kommen. Nun mag sich mancher politische Repräsentant in hohem Maße demokratisch und altruistisch vorkommen, wenn er die Entscheidung über den Regierungssitz großzügig an das Volk delegiert — in Wahrheit ist es eine Farce. Erinnern wir uns: Vor der Wiedervereinigung gab es weder eine Diskussion, noch eine Wahl oder gar eine Volksabstimmung über die Modalitäten des „Zusammenwachsens“ — sie wurde administrativ von oben durchgezogen. Nicht einmal der Bundesbank-Präsident wurde in Sachen Währungsunion gehört, geschweige denn das Volk über Konsequenzen und Alternativen aufgeklärt. Im hektischen Wahn, daß eine historische Sekunde genutzt und die Wiederwahl gesichert werden müsse, zog die Bundesregierung ihr Programm durch. Der Vorwand für die Hals- über-Kopf-Aktion war der Übersiedlerstrom von Ost nach West, der angeblich gestoppt werden müsse — er ist bis heute nicht abgerissen. Von voreiligen Leitartiklern jeder Couleur wurde dem Vereinigungs-Kanzler bescheinigt, er habe „alles richtig gemacht“ — mittlerweile zeigt die Stimmungslage der Nation, daß man es kaum schlechter hätte machen können. In dieser Situation nun ein Votum der Bevölkerung über die lächerliche Frage einzuholen, wo regiert werden soll, hat mit direkter Demokratie nicht die Spur zu tun — es ist eine Volksverarschung zwischen Bonn und Berlin.

Vergangene Woche wurde an dieser Stelle die Frage gestellt: Warum überhaupt Hauptstadt? Die Architektur der Intelligenz, so haben die neuesten Erkenntnisse der Neurologie und der Computerforschung gezeigt, ist nicht zentralistisch und hierachisch, sondern parallel, dezentral, nicht-linear. Das Gehirn hat kein Haupt- Neuron, keinen Mono-Prozessor, in dem Entscheidungen getroffen und nach unten durchgegeben werden — in einem neuronalen Netz treffen Milliarden von Entscheidungsträgern im synaptischen Hammelsprung mit ihren direkten Nachbarn die Entscheidungen. Warum das so ist, darauf haben die Neuro-Wissenschaftler eine einfache Antwort gefunden: Nur eine solche Architektur garantiert Flexibilität und Veränderungsfähigkeit, die starre Struktur des Mono- Zentrismus hingegen ist nur für eine bestimmte Art von Tätigkeit geeignet: mechanisches Robotertum. Nun hat diese Roboter-Mechanik sich evolutionär zwar als durchaus erfolgreich erwiesen, und ein Primaten-Stamm ließe sich wahrscheinlich nicht besser regieren als mit dem Grunzen aus der Haupthöhle des Alpha-Männchens — ob sich diese urzeitliche Methode aber zur Organisation der komplexen Gesellschaften der Zukunft eignet, ist mehr als zweifelhaft. Zwar ist das mechanistische Paradigma der Naturwissenschaften mittlerweile durchlöchert wie ein Schweizer Käse, auf dem Feld der Politik hält man, wie die Hauptstadtdebatte zeigt, roboterhaft daran fest — von Neuro-Politik keine Spur. Der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz etwa wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Verlegung in die Goethe- und Nietzsche-Stadt Weimar: dann könne man ja gleich den Gesundheitsminister nach Bad Wörishofen und den Finanzminister nach Schwäbisch-Hall schicken. Im Unterschied zur ernstgemeinten Volksabstimmung, die ein schlechter Witz ist, geht diese witzig gemeinte Bemerkung genau in die richtige Richtung. Im Computerzeitalter ermöglicht die Datenübertragung lichtschnelle Synapsen zwischen den Entscheidungsträgern, Tele-Präsenz macht die durch energieverschleudernde Dienstwagen hergestellte körperliche Anwesenheit überflüssig, On-line-Kommunikation garantiert schnellere und effizientere Regierungsarbeit als jeder Personal-Filz — und sorgt zudem dafür, daß der Repräsentant ständig vor Ort sein kann: elektronische Basisdemokratie.

Das ist unrealistisch? Die Tagesschau versorgt uns nahezu täglich mit Nachrichten, die im Realitätskonsens der Vorwoche noch als völlig utopisch und far out erschienen — die Berliner Mauer ist längst nicht das einzige Beispiel. Realität ist kein Tunnel mit einem einzigen Ausgang, sondern das, was sich die 100 Milliarden Synapsen unserer Hirne feuerwerksartig ausmalen, mental in die Zukunft projezieren und dann darauf zugehen, als sei es bereits vorhanden. Unrealistisch hingegen ist, den Neandertal-Prägungen zu folgen und darüber zu debattieren, aus welcher Hauptstadt-Höhle es sich denn nun besser grunzt.

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