ÖTV feuert Gewerkschaftssekretär

Der heftige innergewerkschaftliche Streit um Meinungsfreiheit contra Loyalitätszwang gerät zum Schelmenstück/ Bayerns ÖTV fühlt sich durch die Kündigung ihres Sekretärs Wendl überfahren  ■ Von Florian Marten

Hamburg (taz) — Seit dem 28. Mai 1991 ist die friedliche süddeutsche ÖTV-Welt in heller Aufregung. Als an diesem Tag der entsetzte bayerische ÖTV-Sekretär Michael Wendl und ein völlig perplexer Hubert Schütz, Bezirksvize der bayerischen ÖTV, die Stuttgarter Gewerkschaftszentrale verlassen, liegt Erstaunliches hinter ihnen.

ÖTV-Hauptvorständler Willi Mück, zuständig für die innergewerkschaftliche Disziplin, hatte ihnen eine Lehrstunde in Sachen Meinungsfreiheit und Loyalität verpaßt. Anlaß des Spektakels war ein Artikel Wendls in den 'Kölner Politische Informationen‘: Unter dem Titel „ÖTV-Tarifrunde — ein zu glatter Abschluß?“ hatte Wendl die Unzufriedenheit in ÖTV-Kreisen mit dem erzielten Sechs-Prozent-Abschluß im öffentlichen Dienst pointiert. Wendl entdeckte in der Verlaufsform des Tarifkonflikts „viele Anzeichen eines von vornherein vereinbarten Zusammenspiels der Tarifvertragsparteien“. Sein Fazit: „Wird dieser Tarifabschluß bilanziert, so zeigt sich, daß die materiellen Verbesserungen durch spürbare Verschlechterungen bei den tariflichen Arbeitszeitnormen erkauft wurden. Ein Ergebnis, das tarifpolitisch reaktionär ist und sich gegen die gewerkschaftliche Beschlußlage richtet.“ Von dieser herben Gewerkschaftsschelte hatte bis zum Morgen des 28. Mai niemand so recht Notiz genommen. Die ÖTV-Spitze handelte dann aber doch schneller als beim Tarifabschluß: Am 28.Mai morgens werden Wendl und Schütz nach Stuttgart zitiert. Hier erläuterte Willi Mück den beiden: Der Fall liege klar, eine fristlose Kündigung sei gerechtfertigt, man biete „eine einvernehmliche Trennung an“.

Für Michael Wendl kam eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses überhaupt nicht in Frage. Überdies entstehe der ÖTV durch „die außerordentliche Kündigung meines Arbeitsverhältnisses ein weitaus größerer Schaden als durch den Artikel“. Willi Mück entließ Wendl und den mitgereisten Schütz mit dem Hinweis, sie würden schriftlich von ihm hören. Noch am selben Tag jagte Mück ein Schreiben an die ÖTV Bayern, in welchem die fristlose Kündigung Wendls durch seinen Kölner Artikel begründet wird. Besonderer Clou: Eine Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung sei nicht erforderlich, da es sich um eine Kündigung „aus tendenzbedingten Gründen“ handle. Das ging nun selbst den braven Bayern zu weit, von denen viele den Umgang mit Wendl als skandalös empfinden. Der bayerische ÖTV-Betriebsrat lehnte die Kündigung strikt ab, die bayerische Bezirksleitung protestierte heftig, der ÖTV-Bezirksvorstand verfertigte eine Solidaritätsadresse. Der ÖTV-Gesamtbetriebsrat stellte sich geschlossen hinter Wendl. Auch die bayerische SPD kämpft für ihn, die neue Landesvorsitzende Renate Schmidt wurde bereits bei Monika Wulf-Mathies vorstellig — ohne Erfolg. Auch außerhalb Bayerns fragen sich immer mehr Gewerkschafter, ob der Fall Wendl nicht zu einem Debakel für die gewerkschaftliche Erneuerung wird. In einem Band zur „Zukunft des öffentlichen Dienstes“ formulierte Wulf-Mathies noch: „Manche Gestaltungszone wird vertan, wenn wir von vornherein Tabuzonen schaffen und Denkblockaden errichten. Ein offener Diskurs erfordert Mut und souveränen Umgang mit Kritikern.“

Michael Wendl hat auf das Dialogangebot Willi Mücks mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht geantwortet. Eine Niederlage der ÖTV scheint unvermeidlich. Die Juristen in der Stuttgarter Zentrale hatten übersehen, daß Betriebsräte einem besonderen Kündigungsschutz unterliegen. So ist die gewerkschaftlich umstrittene Kündigung Wendls arbeitsrechtlich null und nichtig.