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Das Flüchtige, das bleiben wird

F.C. Delius' Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“  ■ Von Elke Schmitter

Es rührte alle an, als Stefan Heym, der letzte unter den Berühmten, die den Verband deutscher Schriftsteller (VS) noch beehrten, auf dem Travemünder Vereinigungskongreß von den großen Themen sprach, die Deutschland der Literatur beschert. Es brauche ein, zwei, viele Balzacs, rief er aus, die Abwicklung eines ganzen Landes zu beschreiben, den Ausverkauf all dessen, was gewesen ist und was nun nicht mehr werden kann. Und wer, wenn nicht die Schriftsteller, sollte das tun?

Nun soll der Noelle-Neumann- Maier-Leibnitz bleiben, was der Statistik Sache ist: an Daten fehlt es uns nicht. Auch die Schicksalsetüden, von der Presse, im Tiefdruck bis Regenbogen, gern und ausführlich gespielt, sind uns im Westen schon geläufig. Die Stasi-Opfer und die Stasi- Täter, die stockend oder endlich befreit erzählen und denen wir glauben können oder auch nicht... Und die Hochschullehrer und Manager der Industrie aus Hamburg und Essen, die kopfschüttelnd und freundlich berichten, was das für Menschen und Verhältnisse sind im Osten... Stefan Heyms Ansinnen in Ehren, aber auf den großen Roman über das rückgewickelte Erbe der Guldenburgs in der Mark Brandenburg werden wir noch ein Weilchen warten müssen. Die Tinte auf den Überführungspapieren ist noch nicht trocken, die Gelände sind noch nicht ganz und gar verteilt. Inzwischen beschäftigt uns im Goldenen Westen, informiert und unwissend zugleich, mit Geschichten und Zahlen zum Vergessen voll, doch nun schon seit einem Jahr etwas anderes, schwer Faßbares: eine mulmige Ahnung, ein übler Verdacht.

lernen betteln vor denen, die mit einem zupackenden Blick alles zu Geld machen, was ihnen vors Auge kommt, die alten Schränke, die Ziegelsteine mit der Prägung Ribbeck, die Truhen, die Häuser, die Landschaft plötzlich ein einziger Golfplatz rund um Berlin

Wie kann man in eine Erzählung fassen, was noch nicht erzählbar ist, weil alles drunter & drüber geht und, während gehandelt wird auf der einen Seite, die andere noch mit verschränkten Armen dasteht, überflutet von Gerede und Reklame, Versprechungen und Hoffnungen, von einer zupackenden Ordnung, einer optimistischen Logik, die weniger daran interessiert ist zu halten, was zu halten ist, als das Gelände freizumachen für den neuen Plan der Wirtschaft und des Lebens, der sich so gut bewährt hat, wo er 40 Jahre laufen durfte? Wie kann man einem Gefühl Ausdruck verleihen, das zwischen den Koordinaten der Freude und des schlechten Gewissens im Westen, der Erleichterung und der erinnernden Ahnung im Osten schwankt, beispielsweise im Havelland:

plötzlich ein einziger Golfplatz rund um Berlin, weg mit den Kartoffeln, weg mit dem Roggen, die ganze Ernte in die Schweine, da haben wir Erfahrung, und dann weg mit den Schweinen, und dann

liegen über den alten Geschichten von Birnen die neuen Geschichten von Geben und Nehmen, und sind schon von gestern

Denn unter die Freude der Gegenwart, die einbricht als ein spendables Fest des Westens, der in fünfzig Karossen gekommen ist, für Fontane einen Birnbaum Marke „Gräfin von Paris“ zu pflanzen und bei der Gelegenheit alle im Dorf mit Holzbänken, Sonnenschirmen, Erbsensuppe und Birnenschnaps zu bedenken, selbst an neue Matratzen für die Insassen des Altenheims im Schloß von Ribbeck wurde gedacht — unter diese spendierte Gegenwartsfreude mischt sich eine Erinnerung, die ist

schon von gestern, was hatten wir das eine Jahr Gurken im Überfluß, damit hätte einer die Kinder vom ganzen Kreis Nauen ernährt, aber die paßten nicht in den Plan, einige konnten wir lagern oder essen, und dann die Russen mit Stiefeln durch und sich die besten rausgesucht, und der Rest in die Mastanstalt, in ganz Thüringen keine Gurken, und wir fahren die Gurken in die Schweine und kriegen trotzdem gutes Geld dafür, egal wo die Gurken landen, und andere jammern und bieten eine Lichtmaschine für einen Sack Gurken, ein Auspuffrohr für einen Sack Gurken, halbe Autos gegen Gurken zu tauschen, und wir kippen die Gurken in die Schweine,

ein Prost auf die Verteilung

Und etwas an dieser Erinnerung stimmt uns aufs Neue mulmig, weil man weiß, daß auch die freie Wirtschaft einen Plan verfolgt, dessen Soll nur mit Großzügigkeit zu erreichen ist, und daß diese Großzügigkeit dem großen Ziel zuliebe schon einmal hier und da über die Kleinigkeiten hinwegsehen muß. Und daß bei dieser neuen Ordnung in einer Zwischenphase, die dem Gesetz gehorcht, so manches auf den Feldern nicht nur um Ribbeck liegen blieb, weil der, dessen Logik nun Gesetz geworden ist, sich damit nicht mehr abgeben kann:

sogar euch haben wir mit unserm Gemüse beliefert, und nun ist unseren Leuten auf einmal nichts mehr kernig und farbig und saftig genug, und wir sehen zu, wie eure Produkte hier reibungslos einfließen, und da versteh ich nun gar nichts mehr, das haben sie im Fernsehen erklärt, daß wir für den Export jeder Ladung Gemüse an euch eine Genehmigung eures Ministers brauchen, weil die EG nicht zuläßt, daß preiswertere Produkte auf eurem übervollen Markt landen, und wir sehen zu wie die Blöden, wie staatliche Schutzbestimmungen für unsere Produkte abgeschafft werden, da komm ich nun gar nicht mehr mit, von Tag zu Tag mehr werden unsere Märkte und Regale geöffnet für die Produkte von drüben, und bei uns alles Sense, erklär mir das mal, muß man denn, wenn man den Staat schlachtet, gleich die ganze Wirtschaft notschlachten

Ja, das mußte man wohl. Und wer gegen diese Umstandlosigkeit Bedenken anzumelden wagte, wer laut oder leise fragte, wo denn die ganze Ernte aus der DDR geblieben sei, der wurde schnell des Unverstands gescholten, oder, fragte er zum Beispiel in Ribbeck, der krassen und blöden Undankbarkeit. Denn schnell und gründlich mit untergepflügt wurde ja mit dem Blumenkohl und den verfaulten Gurken auch eine andere Erinnerung, die, nach 30 Jahren unvermutet wieder an die Luft gekommen, als ein nicht eingelöstes Versprechen weiterwirkte bis gestern, bis zu diesem einen Abend der Erzählung, in der einer am spendierten Holztisch sitzt und in Birnengeist und Monolog auch dieses noch zur Sprache bringt:

denn was mich angeht, ich möcht nicht verzichten auf den winzigen Stolz nach der Bodenreform, wenn das Getreide gut stand, da hast du dich gefreut, was du geschafft hast mit Frau und Kindern, was hätte da werden können aus uns und aus Ribbeck, wenn sie das Soll nicht so hochgedrückt hätten

Wo sich die Erinnerung an die mankierten Pläne von vorgestern mit einer festlichen Gegenwart mischt, in der das eine große Manko DDR schnell zum Verschwinden gebracht wird, drängen sich auch andere Bilder auf, die, immer wieder neu gedeutet und den Verhältnissen entsprechend umschrieben, umgeschrieben, untersagt, zum Geschichtsbuch im Kopf des Erzählers wurden. Das Geschlecht derer von Ribbeck zum Beispiel, die mehr als siebenhundert Jahre lang, als hätten sie das ewige Leben, immer wieder unter dem selben Namen Hans Georg das Land vermaßen und die Bauern duckten. Das Ende des Vorletzten von ihnen, von dem die einem sagen, er sei von den Russen vor den Augen „seiner“ Bauern und Fremdarbeiter erschlagen worden, die anderen, er sei einer heimlichen Schweineschlachtung wegen im KZ Sachsenhausen verendet. Das Schicksal des vorläufig letzten, der vor der drohenden Enteignung oder womöglich den Erinnerungen in den Westen flüchtete, wo er zum Zeitpunkt der Erzählung noch durchaus hoffen durfte, nach der Entschädiugung der BRD nun doch noch Herr über Land, nicht mehr über Leute immerhin, zu werden... Und die mehr als hundert Soldaten der Wehrmacht, die am Ende des Krieges noch desertierten und im Ribbecker Wald von der SS mit Benzin übergossen und verbrannt wurden und für die nichts da steht als ein verwittertes Holzkreuz mit einem Stahlhelm darauf, weil Desertation selbst in den letzten Tagen vor dem endlichen Frieden weder im alten noch im neuen Deutschland eine Erinnerung wert ist. Und der legendäre Ribbeck schließlich, dessen Großzügigkeit so weit ging, daß er Birnen an die Kinder verteilte, die auf seinen Feldern jäteten, statt zur Schule zu gehen, und dessen Memorierung in Ballade wie Erzählung vom Antifeudalstaat untersagt worden war.

Wie Erinnerung funktioniert, ist nicht eigentlich Delius' Thema, aber das Gedächtnis eines Einzelnen bildet den Raum seiner Erzählung — einem Monolog in einem einzigen Satz, in dem die Themen und Bilder sich überlagern, verschränkt durch die Logik der Assoziation, die sich an einem Ort und dessen Geschichte entlang bewegt. Delius ist zweierlei gelungen: Eine Phase in der Historie der Bundesrepublik so zu beschreiben, wie sie von den allermeisten erlebt wurde — nicht handelnd, sondern passiv, mit einer mulmigen Ahnung auf der einen Seite, mit einer vergeblichen Erinnerung auf der anderen. Daß diese vergebliche Erinnerung, gepaart mit einer wirren und hilflosen Hoffnung, mit Demütigung einhergeht, ist oft appellierend beschworen worden, aber nie so genau gezeigt. Und zum Zweiten hat der Autor mit diesem Text eine andere Einsicht zu Literatur gemacht: daß das Gedächtnis eines einzelnen der offiziellen Geschichtslogik Widerstand entgegensetzt. Der systematischen Betrachtung der Ereignisse, die rückschauend immer recht behält und darauf zielt, Kontinuität und Allgemeines zu behaupten, wo der Zufall Akteur und der Einzelne Opfer waren, hält Delius dieses Delirium der anderen Erinnerung entgegen.

Es braucht Geduld und Behutsamkeit, ein Bewußtsein sprechen zu lassen, das nichts Fertiges aufzuweisen hat. Und vermutlich bedarf ein Autor des Wagemuts, etwas zur Sprache zu bringen, das nur in einer Zwischenzeit überhaupt Sprache werden kann. Delius hat das Vorläufige zu einem Text gemacht und das ganze Risiko für sich entschieden: Es ist ein Buch geworden, das noch gelesen werden wird, wenn das Vorläufige längst Vergangenheit geworden ist.

F.C. Delius: Die Birnen von Ribbeck . Erzählung. Rowohlt Verlag. Gebunden, 80 Seiten, 19,80 DM.

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