Welches Tribunal erwartet uns?

■ zu „Kröning fordert Tribunal“, taz vom 4.6.1991

Die Verantwortlichen der ehemaligen DDR waren mir stets ein Graus, aber wie können wir glaubhaft ihre Bestrafung fordern, solange zum Beispiel keiner der NS-Blutrichter, welche uns verurteilten, je vor ein Gericht kommt? Sie können heute noch für ihre Mordtaten belangt werden. Sie aber wurden Erste Staatsanwälte, Gerichtspräsidenten und Bundesrichter, prägten unsere Nachkriegsrechtssprechung mit und genießen heute hohe Pensionen.

Und wollen wir in der 1. Welt etwa gegen andere Staaten und ihre Repräsentanten wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein Tribunal einrichten? Wir, die die Welt zu einem Kaufhaus gemacht haben und sie zerstören? Unsere Staaten, welche mit ihrer Weltwirtschaftsordnung die Menschheit in den Hunger treiben, über IWF und Weltbank die armen Länder zwingen, den Brotpreis für die hungernde Bevölkerung zu verdreifachen und den verhungernden Kindern keine Schulspeisung zu geben? Die wir unseren Giftmüll in den armen Ländern abladen, in der EG riesige Mengen Lebensmittel vernichten und mitverantwortlich sind, daß jeden Tag 100.000 Menschen qualvoll verhungern. Wir, die wir uns sagen müssen: Wenn alle 5,7 Milliarden Menschen auf der Erde so maßlos wie wir leben, wollen über andere ein Tribunal errichten?

Was werden die Völker der Welt wohl über die „1. Welt“ für ein Tribunal verhängen, wenn sie sich einmal erheben können? Ludwig Baumann